Wiegenlieder sind so alt wie die Menschheit selbst
Zeugnisse von Wiegenliedern finden sich in den frühesten schriftlichen Aufzeichnungen der Menschheitsgeschichte. Bereits Tontafeln aus dem antiken Babylon erzählen von Müttern, die ihre Kinder singend in den Schlaf wiegen. Eines der ersten, in Keilschrift dokumentierten, Wiegenlieder befindet sich im British Museum. Aus heutiger Sicht erscheint der Text dabei eher zurechtweisend als beruhigend:
Aus fast allen Kulturen der Welt sind Wiegenlieder überliefert. Traditionell wurden die Melodien und Texte mündlich von Generation zu Generation weitergegeben. Die Romantik macht aus dem volkstümlichen Kinderlied ein Kunstobjekt. Neben der französischen „berceuse“ ist es vor allem das deutsche Wiegenlied, das Lyrikerinnen und Komponisten des 19. Jahrhunderts künstlerisch überhöhen und neu interpretieren.
Das vielleicht bekannteste Schlaflied der Welt: Brahms‘ Wiegenlied op. 49 Nr. 4
Urdeutsche Tradition, romantisch aufgeladen
Ende des 18. Jahrhunderts erwacht ein reges Interesse an der Tradition des Volkslieds. Auf der Suche nach identitätsstiftenden Zeugnissen deutscher Kultur sammeln und rekonstruieren Clemens Brentano und Achim von Arnim Liebes-, Soldaten-, Wander- und Kinderlieder. Ihre Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“ (1805-1808) findet reißenden Absatz und verschafft dem Wiegenlied „Schlaf, Kindlein, schlaf“ allgemeine Popularität.
Das „Lied im Volkston“ ist en vogue. Die Meister des romantischen Kunstlieds setzen sich auch mit dem Wiegenlied auseinander: Schubert, Schumann, Mendelssohn, Reger und, am polulärsten, Joannes Brahms. Engelbert Humperdink plaziert mit dem Abendsegen ein Wiegenlied prominent in seiner Oper „Hänsel und Gretel“.
Einschlafen auf Maori: Das neuseeländische Wiegenlied „Hine e hine“, gesungen von Kiri Te Kanawa
Wie uns Musik beim Einschlafen hilft
Wiegenlieder gelten dank ihrer sanften Rhythmen und einfachen Melodiefolgen als sichere Einschlafhilfe für die Kleinsten. Allgemein ist wissenschaftlich akzeptiert, dass Musik das Einschlafen fördert. Studien legen nahe, dass Musikhören vor dem Zubettgehen die Schlafqualität verbessert und dabei helfen kann, schneller einzuschlafen.
Eine Studie mit Frauen, die angaben, unter Schlaflosigkeit zu leiden und unter normalen Bedingungen zwischen 27 und 69 Minuten zum Einschlafen benötigten, berichtet, dass die Teilnehmerinnen beim Hören von Musik, die sie selbst gewählt hatten, bereits nach weniger als 15 Minuten einschliefen.
Dabei ist die Frage nach dem „Warum“ noch immer nicht eindeutig geklärt. Das Forschungsnetzwerk Lullabyte, das im November unter der Leitung der Technischen Universität Dresden startete, will den Zusammenhang von Schlaf und Musik an der Schnittstelle zwischen Neuro- und Musikwissenschaft untersuchen.
„Uns interessiert hier besonders, wie sich der Einschlafprozess und die Schlafstruktur durch verschiedene Arten von Musik verändert bzw. wie er beeinflusst wird“, beschreibt Prof. Miriam Akkermann von Lullabyte das Projekt. „Hierzu ist es nötig, dass die Kolleg*innen der Musikwissenschaft, der Neurowissenschaft, der Psychologie und der Data Science eng zusammenarbeiten.“
Klassik, bei der man getrost einschlafen darf: „Dream 3“ aus Max Richters „Sleep“
Ein achtstündiges Schlaflied für Erwachsene: Max Richters „Sleep“
Kabellose Kopfhörer und Musikstreaming-Apps machen es so einfach wie nie, das Einschlafen mit dem Musikgenuss zu verbinden. Für den britischen Komponisten Max Richter ist das, was andere Komponist*innen fürchten, erklärtes Ziel: Sein Album „Sleep“ will die Hörerschaft dazu animieren, mit der Musik einzuschlafen und sich beim Schlafen begleiten zu lassen.
Achteinhalb Stunden mit 31 Teilen umfasst das Werk. „Sleep“ soll den typischen Zyklus unseres Nachtschlafs nachempfinden und zum Träumen einladen. Es sei ein „persönliches Wiegenlied für eine hektische Welt“, erklärt Richter. Er wolle ergründen, wie Musik und Bewusstsein aufeinander einwirken.
Eine App macht die Nutzung über das Handy einfach möglich. Ein Wiegenlied für jede*n zu jeder Zeit, das uns allen lauschige Träume bescheren soll.