In Zahlen: Mit 19 Jahren gewann Lili Boulanger den Rom-Preis des Pariser Konservatoriums und war damit die erste Frau, der dieser wichtige Kompositionspreis verliehen wurde. Mit 24 starb diese außergewöhnlich talentierte Musikerin und hinterließ über 50 Werke.
Die Boulanger-Schwestern
Lili Boulanger wurde 1893 in eine Musikerfamilie hineingeboren, die aktiv das Pariser Musikleben bestimmte. Ein Freund der Familie, Gabriel Fauré, bemerkte als erster das außerordentliche Talent des Kindes.
Mit fünf Jahren nahm Lili, zusammen mit ihrer sechs Jahre älteren Schwester Nadia, ihre Ausbildung am Pariser Konservatorium auf. Sie lernte dort Violine, Cello, Harfe und Orgel, Improvisation und Komposition, während sich ihre Schwester bald ganz auf das Unterrichten konzentrierte.
Nadia wurde ab 1920 Professorin für Komposition an verschiedenen Institutionen, nach dem zweiten Weltkrieg auch am Conservatoire, und unterrichtete eine ganze Generation von bedeutenden Komponisten und Dirigenten, u. a. Aaron Copland, Leonard Bernstein, Elliott Carter und Daniel Barenboim.
Sie widmete einen großen Teil ihres Erwachsenenlebens Lili und unterstützte die zeitlebens von Krankheit gezeichnete Schwester physisch, mental und finanziell. Nadia gründete 1939 die Lili-Boulanger-Gedächtnis-Stiftung, um sicherzustellen, dass die Werke ihrer jüngeren Schwester nie in Vergessenheit gerieten.
Ein Leben geprägt von der Krankheit
Lili Boulangers Leben wurde von zwei Themen geprägt: ihrem außergewöhnlichen Talent und ihrer Krankheit. Ihr Gesamtopus entstand innerhalb von nur einem Jahrzehnt und umfasst 40 Werke, die verschiedene Stilphasen durchlaufen. Als Vorlagen für ihre Vokalmusik dienten biblische Texte, aber auch Dichtungen der französischen Symbolisten.
Der Ausdrucksbereich dieser Werke liegt eher in der Farbmalerei als in plakativer Programmatik, und die verhaltene, leise Dynamik überwiegt. So stehen ihre intimen, in der Harmonik noch durch Debussy geprägten Instrumentalwerke im Gegensatz zu der zunehmend kraftvollen Art und ab 1916 auch Monumentalität, die besonders den Psaume 130 prägt. Dieses 1917 entstandene Werk weist schon auf die geistlichen Werke Arthur Honeggers (Roi David) hin.
Mit 20 Jahren erhielt Lili Boulanger als erste Komponistin überhaupt den „Prix de Rome“, den damals begehrtesten Kompositionspreis, der zu einem Stipendium für ein Jahr in der Villa Medici in Rom berechtigte. Schon das Rom-Stipendium musste mehrmals wegen nötiger Sanatoriumsaufenthalte unterbrochen werden.
Zwischen Freude, Schmerz und Trauer
Lili war 22, als die Ärzte ihr mitteilten, dass sie nichts mehr für sie tun könnten. Das wirkte sich unmittelbar auf ihre Musik aus. Die Kranke komponierte zunehmend Werke mit religiösem Charakter, darunter Hymnen und Texte aus dem Alten Testament. 1918 starb Lili Boulanger mit 24 Jahren an Tuberkulose.
Wenige Wochen vor ihrem Tod vollendete sie die beiden Stücke für Klaviertrio, „D’un soir triste“ („Von einem traurigen Abend“) und „D'un matin de printemps“ („Von einem Frühlingsmorgen“), deren letzte Änderungen sie ihrer Schwäche wegen Nadia diktieren musste. Beide Stücke changieren hochexpressiv zwischen Freude, Schmerz und Trauer, die innigen und kühnen Stücke zeugen zudem von Originalität und echtem harmonischen Genie. Nadia überlebte ihre Schwester um 61 Jahre.
Musikstück der Woche Das Trio Gaspard spielt Fanny Mendelssohns Klaviertrio d-Moll
Komponiert habe sie nichts, schreibt Fanny Hensel 1840. Denn es „kräht ja doch kein Hahn danach“, stellte die hochmusikalische Schwester von Felix Mendelssohn fest. Einige Jahre später aber entstand ihr Klaviertrio d-Moll. Heute finden komponierende Frauen Gehör. Wenn man sie zu Gehör bringt, wie hier das Trio Gaspard.