Der Titel ist sachlich nüchtern, und gleichzeitig allumfassend. Doch der Autor Gernot Gruber konzentriert sich in seinem Buch „Kulturgeschichte der europäischen Musik – Von den Anfängen bis zur Gegenwart“ klar auf Mitteleuropa. Es geht um Quellenproblematik und Notationsgeschichte, weltliche und geistliche Musik. Gruber lässt Fragen offen und spekuliert nicht. Für ihn ist Musikgeschichte ein komplexes Geflecht. Ein spannender, moderner Blick auf Musikgeschichtsschreibung, der durchaus anspruchsvoll werden kann.
„Kulturgeschichte der europäischen Musik. Von den Anfängen bis zur Gegenwart“ – dieser sachlich-nüchterne Titel hat es in sich: suggeriert er doch einen allumfassenden Anspruch. Den kann Autor Gernot Gruber natürlich kaum in aller Konsequenz einlösen. Er muss vor allem den Mut haben, bestimmte Aspekte nur oberflächlich zu streifen oder gar ganz wegzulassen. Allein deshalb schon konzentriert er sich auch auf die Geschichte der europäischen Kunstmusik mit Schwerpunkt Mitteleuropa. Eine Ausnahme macht er in der griechischen Antike.
Im zweiten Kapitel seines Buches spricht Gernot Gruber das Problem der Quellen an - entscheidend für jede Form von Geschichtsschreibung. Und so gelten diese Sätze bezogen auf die Kunstmusik noch weit bis ins Mittelalter hinein. Bei der so genannten Volks- und Popularmusik sogar noch bis zum 19. Jahrhundert. Erst das Aufkommen notierter Musik lässt detailliertere Rückschlüsse auf die Struktur und den Klang von Musik zu. Doch über die konkrete Aufführungspraxis erfährt man meist nur wenig. Bewusst lässt Gruber solche und ähnliche schwierigen Fragen offen, anstatt lange über deren mögliche Antworten zu spekulieren
Der Humus der europäischen Kunstmusik
Der gregorianische Choral bildet so etwas wie den Humus der europäischen Kunstmusik. Er stammt jedoch aus der geistlichen Sphäre. Zu der kommt stets die weit weniger gut dokumentierte weltliche dazu. So muss Gruber in seinem Buch immer wieder zwischen diesen beiden Genres differenzieren. Die übliche Periodisierung der Musikgeschichte in Epochen übernimmt er nur teilweise: statt von „Spätromantik“ spricht er etwa im 13. Kapitel lieber allgemeiner von der „Gründerzeit“. Den Begriff übernimmt er aus den Betrachtungen der allgemeinen Gesellschaftsgeschichte, mit denen er seine Kapitel jeweils einleitet.
„Bunt“ ist ein Wort, das Gernot Gruber auffällig häufig verwendet. Für ihn ist die Musikgeschichte ein komplexes Geflecht aus Einflüssen geistesgeschichtlicher Strömungen, regionalen oder nationalen Eigenarten und musikalischen Genres oder Gattungen. Bestimmte Protagonisten stechen dabei mit ihrem Werk hervor. Einer davon ist natürlich Wolfgang Amadeus Mozart. Als „Klassiker“ wird er als einziger mit einem kurzen Notenbeispiel bedacht: dem langsamen Satz aus seinem A-Dur-Klavierkonzert. Dieses Beispiel dient Gernot Gruber zur Illustration des kreativen Umgangs Mozarts mit traditionellen Formen und deren Weiterentwicklung.
Gruber vertritt ein sehr aktuelles Bild von Musikgeschichtsschreibung
Mit Tradition und Fortschritt tut sich ein weiteres wichtiges Feld auf, in das der Autor die Musikgeschichte einspannt. Sie wird in seinem Buch zu einem Prozess, der von einer starken Dynamik geprägt ist und sich oft nicht in eindeutigen Begriffen fassen lässt. Damit vertritt er ein sehr aktuelles Bild von Musikgeschichtsschreibung. Zudem übt er hin und wieder auch Kritik etwa an klassischen Formmodellen:
Ähnlich wie solche kritischen Anmerkungen sind viele Texte Grubers in einem eher „erzählenden“ Stil geschrieben. Andere wiederum sind sehr anspruchsvoll zu lesen und setzen manches Vorwissen voraus. So heißt es etwa in einem interessanten Ausflug in das Thema „Spätwerke von Komponisten“:
Fundierter und anspruchsvoller Überblick über die Geschichte der europäischen Musikkultur
Musikgeschichte ist bei Gernot Gruber vor allem Schöpfungsgeschichte. Komponistinnen und Komponisten stehen im Zentrum. Interpretinnen und Interpreten, die Musikkritik, aber auch musikalische Institutionen kommen dagegen nur am Rande vor. Biografisches wird auf das notwendige Minimum reduziert, Bilder, Tabellen, Grafiken sind nur vereinzelt in diesem Buch der Verlage Bärenreiter und Metzler zu finden.
Bunte Vielfalt an Themen und Aspekten
Dafür enthält es ein üppiges Personenregister, sowie weitere Literaturhinweise im Anhang. Das Werk überzeugt vor allem durch die bunte Vielfalt an Themen und Aspekten, unter denen der Autor die Musikgeschichte zu gliedern und zu beschreiben versucht. Für 49 Euro 99 bietet es einen fundierten, lesenswerten, aber auch anspruchsvollen Überblick über die Geschichte der europäischen Musikkultur – von den ersten Höhlenzeichnungen von Instrumenten bis zu den elektronischen Beats unserer Tage.