Donaueschinger Musiktage 2006 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2006: "Plötzlichkeit"

Stand
Autor/in
Brian Ferneyhough
Übersetzung
Lydia Jeschke (aus dem Englischen)
Lydia Jeschke

Manchmal kommt man auf seltsamen Wegen zu neuen Werken. Im Fall von Plötzlichkeit wurde ich zwischen 1999 und 2004, während der Arbeit an meinem Musiktheaterstück Shadowtime, eines wachsenden neuen und ungewohnten Sinns für die Beziehung von Zeit und Form gewahr. Insbesondere fühlte ich die Notwendigkeit, die Beziehung dieser Dimensionen auf jener lokalen Skala zu artikulieren, die sehr kurze Stücke in die Lage versetzt, ihre Abspaltung in unabhängig artikulierbare Komponenten des Bewusstseins zu vermeiden und ebenso, dass sie sich in die Aura des Fragmentarischen und die elterliche Autorität des implizierten "Anderen" kleiden, oder dass sich fremde oder vermeintlich konventionelle Formmodelle aufdrängen, wie sie uns so häufig in der "Miniatur" begegnen. Weiterhin war ich, so entschied ich, nicht interessiert an der Kalibrierung eines neuen Satzes von Kriterien für die nahtlose Interaktion von Material und zeitlichem Rahmen; stattdessen begann ich zu verstehen, dass es die Diskrepanz zwischen ihnen war, die ich vielleicht am Leben erhalten sollte, als Sinn für ihre grundlegende Inkommensurabilität, und dass ich daher sowohl der Zeit als auch der expressiven Substanz gerecht werden sollte.

Die zweite Szene von Shadowtime, überschrieben Les Froissements d´Ailes de Gabriel, hat als ihr primäres Postulat die Idee, dass Engel, obwohl sie notwendig in der menschlichen Geschichte agieren, selbst wesentlich taub sind für die Zeit. So stand ich vor der Herausforderung, diese himmlische Intensität mit denselben Mitteln darzustellen, die wir üblicherweise nutzen, um uns selbst in der grundsätzlichen Zeitlichkeit unseres eigenen Bewusstseins zu verorten. Da vieles in Shadowtime sich mit Reproduktion beschäftigt, mit Imitation, Korrespondenz und Remapping als notwendige, aber nicht ausreichende Bedingungen für den Prozess symbolischer Transkription, die sich an der Wurzel der ästhetischen Erfahrung befindet, suchte ich ein Stück zu komponieren, was, idealerweise, dem Hörer die schattige Allgegenwart einer Dimension durch das ständig erneuerte Bewusstsein ihrer Abwesenheit – oder, wenigstens, ihrer schwindenden Präsenz – übermitteln würde. Der erforderliche chirurgische Eingriff musste an einem Punkt erfolgen, bevor Zeit als eine unabhängige Sinnes-Gegenwart in einem gegebenen diskursiven Akt erschiene. Das "wann" von Zeit wurde also ein Faktor. Meine Lösung dieser vielleicht paradoxen Herausforderung lag in der Komposition kurzer Segmente von Musik, in denen eine spezifische Materialidentität, wie auch immer diese letztlich definiert werden sollte, sich mit einer Dauer irgendwo unterhalb der Bewusstseinsschwelle verbünden würde, wodurch das Ohr die weiteren Konnotationen des Material-Kontextes zufriedenstellend aufnehmen könnte. Indem ich ein Mittel erfand, mit dem unsere erworbene Fähigkeit, gefühlte vergangene Zeit in das musikalische Objekt selbst einzubetten, ständig frustriert werden konnte, mag unsere Fähigkeit, befriedigend zu synthetisieren und vergangene Zeit und Substanz intuitiv zu überblenden, vielleicht bis zu dem Maße unterlaufen werden, dass Zeit sozusagen transkribiert wird in unser Bewusstsein von ihrer Unzulänglichkeit, die Rolle zu spielen, die ihr üblicherweise zugeschrieben wird. Wie ein farbenblinder Fahrer, der das "rot" und "grün" von Ampeln in "höher" und "tiefer" übersetzt, können wir in einem Kontext, in dem Zeit unseren individuellen Bewegungen keinen Widerstand bietet, immer noch manövrieren.

Auf diese Art zu arbeiten, brachte seine eigenen Frustrationen mit sich, aber es führte auch zur Entwicklung eines frischen Satzes von heimlichen Taktiken, in bezug darauf, wie Abschnitte miteinander in Konfrontation gebracht oder in geeignete, aber gänzlich unechte momentane Allianz überführt werden könnten. Diese Erfahrungen wurden der Auslöser für die Komposition Plötzlichkeit und ihren nicht unähnlichen gesamten Ansatz.

Indem sie sich in mehr als hundert lokal definierten musikalischen Einheiten entfaltet, basiert die Form (Anti-Form?) von Plötzlichkeit notwendig eher auf unmittelbarem Wechsel als auf allmählicher Transformation. Zugleich konnte ich durch meine Verbindung mit den Gedanken Walter Benjamins in Shadowtime keinesfalls seine Sicht der epiphanischen Natur des historischen Bewusstseins ausblenden oder auch die gewichtige Aura, die den Begriff "Plötzlichkeit" in der Entwicklung des Konzeptes des Erhabenen in der deutschen Romantik umgibt. Die scheinbar nicht-lineare Oberfläche des Diskurses in diesem 22-Minuten-Stück ruht auf einer Anzahl a priori determinierter Faktoren, deren wichtigster eine rhythmische Struktur mit zwanzig Schichten war, die großenteils auf Entfaltung von simultanen Prolations-Prozessen basiert, die, indem sie zusammen beginnen, aber separat enden, mir eine Serie von mehr als dreißig wellenartigen Mustern möglicher Dichtegrade zur Verfügung stellten. Während diese Muster an keiner Stelle als Totalität präsentiert werden, diente ihre fortschreitende Konsistenz trotzdem als ein signifikanter Orientierungspunkt.

Während die rhythmische Struktur sich sozusagen durch Subtraktion entwickelt, wurde die Instrumentation nach zwei grundsätzlichen Parametern bestimmt: Zahl und Identität der verwendeten Instrumente (Instrumentengruppen) und Reihenfolge des Eintritts der letzteren durch die Dauer eines gegebenen Abschnitts hindurch. Beide Schichten dieses Regelwerks wurden durch die zunächst zufällige Entscheidung entwickelt, Verfahren zu finden, die dann weiteren Verfeinerungen unterworfen werden, auf der Basis ihres Verhältnisses zu unmittelbar vorangehenden und folgenden Strukturen. Da viele von diesen Abschnitten nur einen Takt lang sind, gaben die Probleme, die aus den gelegentlich weit divergierenden Regelzwängen entstanden, viele Anregungen für die Entwicklung von gestischen und rhetorischen Charakteristika. Plötzlichkeit wurde nicht linear komponiert, sondern ist das Ergebnis von drei Durchgängen durch die gesammelten Grundsubstanzen; ein Ergebnis ist, dass es keinen Sinn der musikalischen Sprache gibt, die "selbstbewusster" würde, indem sie fortschreitet, da das der "Leugnung der Zeit" widersprochen hätte, die eine meiner grundsätzlicheren Prämissen blieb.

Schon zu einem frühen Zeitpunkt entschied ich, drei unabhängige Material-Blöcke zu komponieren, die dem Blech, den Streichern beziehungsweise den Holzbläsern zugeordnet werden sollten. Ich stellte mir das willkürliche (und vielleicht naive) Eingreifen dieser Einsatzstücke als Repräsentation von "Mängeln" oder "Fehlern" im nahtlosen Fluss vor, was, auf einer höheren Ebene, zu einer wichtigen Unterminierung des monolithischen Eindrucks führen würde, der durch konsequente Inkonsequenz entsteht. Sie repräsentieren den Rest einer schiefen Kartographie, sehr ähnlich derjenigen in zufällig sich überschneidenden, aber nichtsdestotrotz perspektivisch unabhängigen Plänen, die uns vielfach im architektonischen Denken der Gegenwart begegnen.

Die orchestralen Kräfte in diesem Stück sind an verschiedenen Schlüsselstellen ergänzt worden, vor allem durch die Ausdehnung der Möglichkeiten eines Posaunen-Glissandos in ein höheres Register mittels zweier Diskant-Posaunen in hoch B, durch die Stimmung der zweiten Harfe um einen Viertelton tiefer, das Ersetzen der Tuba durch die agressivere Klanglichkeit des Cimbasso und die Hinzufügung einer Basstrompete. Am ungewöhnlichsten ist vielleicht die Einbeziehung von drei Frauenstimmen, die, ohne Text, vor allem zur Modifizierung der akkordischen Klänge in den Orchesterapparat integriert werden.

Drei Typen von Tonhöhen-Material laufen durchgängig durch größte Teile des Werks, unterschieden zumeist durch ihre Einschränkung auf klar hörbare klangfarbliche Identitäten. Die sechs Hörner und drei Trompeten sind in Sechsteltönen gestimmt, als Ergebnis ihrer Tonhöhen-Erniedrigung zum siebten Oberton des vorhergehenden Instruments. Die Holzbläser und Posaunen transportieren einen Viertelton-Fluss, während die Streicher (meistens) in der üblichen temperierten chromatischen Skala bleiben.

Plötzlichkeit entstand im Auftrag der Donaueschinger Musiktage zwischen Oktober 2004 und Juli 2006.