Meine "Studien zu Figuren" sind die Draufsicht auf ein absurd handelndes Kollektiv. Inspiriert haben mich dabei Franz Kafkas "Forschungen eines Hundes", Werke des irischen Malers Francis Bacon, vor allem seine Herangehensweise an den schöpferischen Prozess sowie die Geschichte einer mir völlig unbekannten Frau, die ich einmal zufällig bei einem Spaziergang am Kanal getroffen habe.
Wie in Kafkas Geschichte die "Musik der Hunde" für den Erzähler deren Wesen im körperlichen Ausdruck offenbart, so interessiert mich Musik als menschlicher Ausdruck. Ich bin davon überzeugt, dass Töne, Klänge immer schon konnotiert sind etwa mit Haltungen und Bewusstseinszuständen von Personen. Schon oft habe ich geschrieben, dass Musik für mich eine Sprache ist, aber eben nicht im romantischen Sinne als Ausdruck innersten Empfindens. Vielmehr glaube ich, dass Klänge, Töne, Phrasen und Bewegungen immer schon Ausdruck gewesen sind. Und wie in Kafkas Geschichte ist dabei die Rolle des "Anderen", des Hörenden wesentlich. Im Rezipieren, im Hören suchen wir ständig, wenn auch meist unbewusst, nach diesem Ausdruck – und werden auch gelegentlich fündig. Das Horchen, das Lauschen ist dabei ein wesentlicher und zutiefst menschlicher Vorgang, denn das suchende Horchen, das suchende Lauschen auf Resonanz, auf Antwort, ob nun in mir oder von außen, ist gleichzeitig auch immer Ausdruck einer Suche nach kleinen Sinnzusammenhängen in einer dunklen, absurden Welt.
Auch die Geschichte vom Kanal handelt von der Suche nach Zusammenhängen im Ausdruck einer mir völlig unbekannten Frau. Die Erzählerin bemüht sich auf nahezu kafkaeske Weise, in freien Assoziationen über ein zufällig von außen gesetztes Thema, ein eigenes Problem zu lösen bzw. sich dessen überhaupt bewusst zu werden sowie möglichen Sinnzusammenhängen auf die Spur zu kommen. Dies jedoch nicht durch reflektierende Analyse, sondern vielmehr durch das schleifenförmige Einkreisen eines offenbar größeren eigenen Problemkomplexes. Ausgehend von einem durch den Park hinkenden Hund werden hier die eigenen kranken Katzen, eine drohende Räumungsklage und schließlich die vermutlich auch eigene Arbeitslosigkeit zum Thema, die in der für den Außenstehenden offenbar völlig zusammenhanglosen Äußerung "auch Arbeitslose können sich ein Haustier leisten" ihren Ausdruck findet und implizit auf den ganzen Komplex von möglicher Schuld am Tode einer der eigenen Katzen anspielen mag.
Für Bacon ist der schöpferische Akt der Versuch, mit den unterschiedlichsten Techniken, etwa durch Zufallsoperationen, das Bild zu finden, das man bereits in sich trägt. Verpasst man das innere Bild, dann ist das Werk misslungen, doch manchmal findet man den richtigen Zeitpunkt, es abzuschließen. Das Ziel, in das Wesen einer Persönlichkeit einzudringen, wie es auch Kafkas Hund am Ende der Erzählung formuliert, findet sich ebenfalls bei Bacon. Sein Hauptproblem beim Portraitmalen besteht darin, "eine Technik zu finden, mit der man all die Schwingungen einer Person wiedergeben kann... Wer für ein Portrait sitzt, ist aus Fleisch und Blut, und was eingefangen werden muss, ist das, was sie ausstrahlen". Eine zunächst noch nebulöse innere Vorstellung konkretisiert sich erst allmählich im Laufe des Herstellens und durch die Wahl des Materials. Dennoch ist nicht die ursprüngliche Vision eines Kunstwerks entscheidend, sondern ihre allmähliche Verwandlung im und durch den Arbeitsprozess, ihr Ausdruck. Die Idee ist etwas anderes als die eigentliche Realisation. Aber ohne eine innere Vorstellung ist ein Werk tot.
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- Iris ter Schiphorst, Studien zu Figuren / Serie A für 7 verstärkte Stimmen und Sampler
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