Donaueschinger Musiktage 2007 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2007: "Ausruff für großes Ensemble"

Stand
Autor/in
Hans Thomalla

Exclamatio. Wenn man aus einer starken Gemüthsbewegung einen Ausruff thut.
Johann Christoph Gottsched

Komponierte Klänge sind Zeichen. Sie tragen Bedeutung, auch wenn ihre Bedeutung in Sprache nur selten zu übersetzen ist. Ihre Zeichenhaftigkeit weist in zwei Richtungen. Zum einen sind Klänge Zeichen von Menschen für Menschen, vom Komponisten und vom Interpreten an Hörer. Zum anderen bedeuten Klänge jedoch ihr eigenes Klangmaterial, sind Zeichen der klingenden Materie selbst. Sie sind Zeichen ihrer ganz spezifischen, jeweils einzigartigen Natur – der aus Darmsaiten und Holzkorpus resultierenden spezifischen Ausklangscharakteristik einer Harfe, dem durch Material und Form des Mundstücks und des Korpus geformten spezifischen Spektrum einer Klarinette, oder der durch Filz und Schwere und Spannung der Saite definierten spezifischen Attacke eines Klavieranschlags. Beide Bedeutungsaspekte sind eng miteinander verbunden. Komponist oder Instrumentalist bedienen sich der Klangcharakteristik des Materials für ihre Rhetorik: das Blechbläsersforzato mit seiner extremen Lautstärke und der harten Attacke im spezifischen Spektrum als Bedeutung von Gewalt; die pianissimo gespielten, fast nur berührten Harfensaiten mit ihrem weichen Einschwingvorgang als Bedeutung von Zartheit, Sanftheit.

Die Musik meiner Gegenwart ist bestimmt von einem Ausverkauf von Bedeutungsklischees, von rhetorischen Stereotypen – in der Neuen Musik ebenso wie in der Unterhaltungsmusik. Sie sind vom Komponisten so mühelos abgerufen, wie vom Hörer konsumiert, eine Reiz-Reflex-Reaktion der Pauken und Trompeten, der gläsernen Flageolettakkorde, der exotischen Jet-Whistles, der Pseudo-Herzschläge aus leiser, abgedämpfter großer Trommel und tiefen Klaviersaiten, oder der Exclamatio hochfahrender Klarinettenfanfaren.
Bedeutungsvolles Komponieren heißt für mich jedoch, dieses Repertoire verfügbarer rhetorischer Klischees nicht einfach wie auf einem Sampler abzurufen. Komponieren ist für mich sprachlose Rhetorik, also Rhetorik, die ihre Sprache immer wieder neu aus dem Beziehungsfeld von Klangeigenschaften, eigener kultureller Erfahrung und neu gesetztem Zusammenhang entwerfen muss. Es ist die aktive, also immer wieder an die Grundlagen musikalischer Sprache führende kompositorische Befragung der Klänge und Klangfiguren hinsichtlich dessen, was da klingt und was es bedeutet. Es heißt Befragung der akustischen Eigenschaften der Klangfiguren ebenso wie der in ihnen sedimentierten Geschichte, der in Jahrhunderten von rhetorisch bestimmter Musik abgelagerten Bedeutung. Befragung jedoch nicht als museale Rekonstruktion von Bedeutung, sondern als deren radikale künstlerische Neuformulierung, gestützt auf nüchternes Sezieren ebenso wie auf Konfrontation der Figuren mit Material aus anderem Kontext; gestützt auf passives Zuhören ebenso wie auf gewaltsame Zerlegung der Figuren in ihre Einzelteile, bis hin zur Zerstörung ihrer eingeschriebenen rhetorischen Charakteristik. Musik ist immer Gegenwartskunst: Ihre Zeichen löschen immer andere Zeichen aus.

"Ausruff" für großes Ensemble ist Befragung der Exclamatio, der Klangfigur des Aufschreis in der musikalischen Sprache meiner Gegenwart, besonders in der Ensemblemusik, und es ist zugleich der Versuch der Artikulation eines Ausrufs selbst. "Ausruff" ist dem Ensemble Modern gewidmet.

Stand
Autor/in
Hans Thomalla