"In der Wüste muss ich die Einsamkeit nicht erst suchen – ich bin Teil davon. Ich bin auch nicht mit mir selbst allein, das wäre wieder die romantische, westliche Form der Einsamkeit. Nein, die Wüste ist für mich die klarste, schönste, hellste, stärkste Form der Abwesenheit."
Jean Baudrillard
Die Wüste ist ein Ort der physischen Extreme – die Helligkeit der Sonne, der weite Horizont und die Stille schaffen einen Raum, in dem wir die Objektwelt um uns herum mit geschärfter Klarheit wahrnehmen. In "The Brightest Form of Absence" begegnen wir der Landschaft mit der Absicht, dass sie an uns arbeitet, dass wir ihr zuhören und – ohne dabei direkt gestaltend einzugreifen – ihre Elemente beobachten. Eine von uns geschaffene Erzählung ist erst einmal abwesend, und alle visuelle und klangliche Form ist von den gefundenen Objekten und Klängen selbst gestaltet sowie von den sie bewegenden Kräften der Natur.
Der Beginn der Zusammenarbeit war eine Fahrt durch die Mojave Wüste und das Death Valley im September 2010, wo wir Ton- und Videoaufnahmen gemacht haben. Die Partitur des Werkes basiert auf diesen Mehrspuraufnahmen. Das unspektakuläre akustische Ambiente wird Material für eine Musik, die von scheinbar unerheblichen Umgebungsklängen ausgeht: ruhige Windgeräusche, leise Grillen, Zugbremsen, das Ticken eines sich abkühlenden Motors, die Klänge, die von William Lamsons Objekten verursacht werden. Im Konzertstück werden Teile dieser Aufnahmen zugespielt, der Fokus der kompositorischen Struktur liegt jedoch auf einer traditionell notierten Partitur für Stimme, Instrumentalisten und live-elektronische Transformation. Diese Live-Musik entwickelt vielfältige Beziehungen zu den aufgenommenen Klängen: von fast tautologischer Imitation – "photorealistische" akustische Landschaftsmalerei – bis hin zum totalen Kontrapunkt der notierten Musik zu den aufgenommenen Klängen, wo die Live-Musik ihre eigene innere Landschaft auf die Wüstenaufnahmen projiziert und ihre eigene Reise durch gefundene Objekte unserer musikalischen Erinnerung, durch verwüstete Fragmente musikalischer Sprache entwirft. Drei Lieder für Stimme und Klavier markieren die weiteste Entfernung vom Naturalismus der Landschaftsaufnahmen – intime Momente eines fast vollständigen Rückzugs in eine innere Landschaft.
Die Videos inszenieren in der Wüste eine Serie minimaler Interventionen, die darauf abzielen, von Mensch und Natur gleichermaßen "liegen gelassene" Objekte zu animieren. In jedem Video wird der Wind zur unberechenbaren Kraft, welche die Objekte entweder mit Hilfe eines Drachens oder durch direktes Einwirken auf den Gegenstand aktiviert. Der Wind gibt den Objekten ihre Form, Richtung und Zweck. In einem Video folgt William Lamson einer Flasche, die langsam durch weiße Sanddünen gezogen wird und dabei eine kontinuierliche Linie hinterlässt. Diese Spur wird selbst zur ständig sich verändernden Komposition, während der Künstler läuft, um sie im Bild zu behalten – eine Art Tanz von Gegenstand und Künstler, bei dem das Objekt führt, und der Künstler folgt. Der Eindruck einer Zielgerichtetheit steht im starken Kontrast zu anderen Videos, wo der durch Wind animierte Gegenstand sich scheinbar vollkommen zufällig bewegt: Durch unsichtbare Kraft wird ein Stein in die Luft gezogen, fällt herab und wird im nächsten Moment wieder hochgezogen.
Die Videos und die Musik sind nicht durch eine gemeinsame Erzählung, Form oder Syntax miteinander verbunden. Eine Unterteilung in elf Sätze, die sich auf acht verschiedene Orte bzw. Installationen der Reise beziehen – acht verschiedene "Takes" ergänzt durch die drei Lieder – definiert einen Rahmen für eine Vielfalt an Beziehungen zwischen den beiden Medien. Sie können streckenweise "in sync" sein, also für einen Moment das gleiche akustische und visuelle Bild darstellen; sie können beide ihren eigenen Weg verfolgen, sich dabei berühren und auch wieder trennen; oder sie sind vollkommen autonom, definieren ihre Struktur unabhängig vom anderen Medium, und ihr Zusammenhang liegt nur in der Wüstenlandschaft, die beiden Medien direkt oder indirekt erfahrbar als Hintergrund dient.
"The Brightest form of Absence" ist ein Auftragswerk des SWR. Die Aufnahmen in der Mojave Wüste und im Death Valley wurden unterstützt durch einen CIRA-Grant der Northwestern University, die Arbeit an der Live-Elektronik durch ein Stipendium des SWR Experimentalstudios. Das Gedicht "Song for Sunset" ist von Earle Birney (mit freundlicher Genehmigung von Harbour Publishing, Kanada).
Hans Thomalla/William Lamson
The Death Song of White Antelope
Nothing lives long
Except the earth and the mountains.
Song of a Man About to Die in a Strange LandAnonymus
If I die here
In a strange land,
If I die
In a land I do not know,
Nevertheless, the thunder,
The rolling thunder will take me home
If I die here, the wind,
The wind rushing over the prairie,
The wind will take me home
The wind and the thunder
They are the same everywhere.
What does it matter then,
If I die in a strange land.
Song for Sunsets
Earle Birney
goodnite sun
im turning over again
im on the little ball
so slowly rolling
backwards from you
i hope youre there
burning away
central & responsible
all thru the black
of my dumb
somersault
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- Themen in diesem Beitrag
- Hans Thomalla, William Lamson, The Brightest Form of Absence Multimedia Komposition für Stimme, Ensemble, Live-Elektronik und Video-Projektion
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