"Minnesang" von Emmanuel Nunes für 12 gemischte Stimmen (Text: Jakob Böhme).
Mit "Minnesang", einer a cappella-Komposition für zwölf gemischte Stimmen (1975–76), beschwört Emmanuel Nunes weniger die ritterliche Liebe der mittelalterlichen Feudalkultur als die Liebe zu einem Gott. Die Texte sind verschiedenen Schriften des deutschen Philosophen und Mystikers Jakob Böhme (1575–1624) entnommen, deren Lektüre, wie der Komponist schreibt, eines seiner Gravitationszentren jener Jahre darstellte. Einzig die Sätze zu Anfang und Ende stammen von Nunes selbst: "Auf ewig Dein sei der Klang, das Wort und die Liebe" und schließlich: "Säume nicht, geliebte Seele!" – Anreden an ein geliebtes metaphysisches "Du".
Nunes greift hier den Gedanken Böhmes auf, in jeder Sprache verberge sich eine geheime Sprache jenseits ihrer Semantik. Das vielfältige Potential von Böhmes Sprache extrapoliert Nunes hier hauptsächlich durch ihre Phonetik hindurch, zumal Böhme Phonetik als Betrachtung von Artikulationsphänomenen verstand, die auf die Essenz der Dinge hinweisen, die von den Worten bezeichnet werden. In diesem Sinne tauchen Sätze, Satzfragmente oder ganze Textpassagen in Minnesang nur vereinzelt auf. Den Hauptkorpus des Textes bilden Schlüsselbegriffe wie "Herzensfeuer", "Sternengeist", "Leib des Wortes" und immer wieder "Adonai", einer der Namen Gottes. In Silben zerlegt und permutiert stellen sie auf ihre Weise Eckpfeiler der Gedanken Böhmes dar. Eine Sequenz von Verben wie "lieben", "leben", "hören", "wirken", "wandeln" ergänzt dazu "eine Art von Vektorenkraft, die der Seele und dem Geist die notwendige Energie einhauchen, um Böhmes Gedankengänge nachzuvollziehen" (Nunes).
Das Deklamationsspektrum setzt sich dabei aus sechs Zwischen- und Mischfeldern zusammen: von Sprechen bis Singen mit offenem oder geschlossenem Mund, von verständlichem Text bis hin zu sprachentkoppelten Lauten. Durch sie bringt Nunes eine reliefartige, wandelbare Textur in den Stimmkörper, den er auch äußerlich immer wieder neu gliedert: Die sechs angelegten Stimmpaare sind jedoch selbst dann noch wirksam, wenn sich Männer und Frauen als komplementäre Gruppen gegenüberstehen.
Der Gesamtstruktur von "Minnesang" liegen sechs rhythmische Formeln zugrunde, mit denen Nunes in einer Weise verfährt, die an Kompositionen der Ars nova erinnert. Das für seine Verhältnisse außergewöhnlich tonal klingende Vokalwerk fällt in die Zeit seines ersten großen Zyklus. Entsprechend pendelt er hier im schmalen Rahmen zwischen E und Gis. Die tonale Beschränkung fokussiert die Aufmerksamkeit auf das nuancenreiche und vieldimensionale Innenleben von Text, Wort, Silbe und Laut – dies – und jenseits von Semantik.
In "Minnesang", a cappella composition for twelve mixed voices (1975–76), Nunes is evoking not so much the courtly love of medieval feudal culture as love for a god. The texts are taken from different writings by the German philosopher and mystic Jakob Böhme (1575–1624); the composer writes that reading them was one of the gravitational centres of those years. Only the opening and closing words are by Nunes himself: "Let sound, word and love be yours forever" and "Tarry not, beloved soul!" – appeals to a beloved metaphysical 'thou'.
Nunes here takes up Böhme's idea that concealed in every language, there is a secret language beyond its semantics. Nunes here extrapolates the manifold potential of Böhme's language mainly in phonetic terms, especially because Böhme viewed phonetics as an observation of articulatory phenomena that point to the essence of those things which are referred to by words. Accordingly, sentences, fragments of sentences or complete text passages only appear at certain points in "Minnesang". The main body of the text consists of key terms like 'heart-fire', 'star-spirit', 'body of the word' and repeatedly 'Adonai', one of the names of God. Broken up into syllables and permutated, they constitute, in their own way, cornerstones of Böhme's thought. A sequence of verbs like 'love', 'live', 'hear', 'work', 'change' augments "a kind of vector force that breathes the necessary energy into the soul and the spirit to reconstruct Böhme's thought processes" (Nunes).
The spectrum of declamation consists of six intermediate and mixed fields: from speaking to singing with the mouth open or closed, from intelligible text to sounds separated from any language. In this way, Nunes gives the vocal body a relief-like, variable texture and also keeps rearranging its exterior: the disposition of six vocal pairs even remains in effect when men and women face one another as complementary groups.
The overall structure of "Minnesang" is based on six rhythmic formulas which Nunes uses in a way that recalls compositions from the ars nova period. The vocal work, which sounds unusually tonal compared to his other music, falls in the time of his first large cycle. Accordingly, he alternates between E and G# within a narrow framework. This tonal restriction focuses the attention on the nuanced and multi-dimensional inner workings of text, words, syllables and sounds – within semantic boundaries and beyond.
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