Der Impuls zu dieser, meiner ersten großen Arbeit für Klavier und Orchester war ein Auftrag des spanischen Nationalorchesters im Jahre 1993. Die oft verzweifelte Suche nach der Formulierung einer eigenen Sprache, die sich dem mit einer enormen historischen Bürde belasteten Instrument anpassen sollte, war dabei der erste Schritt. Als vorrangige Aufgabe stellte sich mir daher die Komposition der Cadenza, Hauptachse der Großform, an deren Niederschrift ich intensiv und ohne Unterbrechung von Ende Juli bis Mitte November desselben Jahres arbeitete.
Die Arbeit, die ich mir vorgenommen hatte, war: die Suche nach einem in tausend Spiegelungen "zerbrochenen" Klangmaterial, das in der Strenge und mit den beschränkten Mitteln gefunden werden mußte, die ein nur schwer zu "zerbrechendes" Instrument vorgibt; denn seine Stimmung ist festgelegt, die Klangfarbe läßt relativ wenige Variationsmöglichkeiten offen – außer man manipuliert die Saiten in seinem Inneren, ein Verfahren, auf das ich bei diesem Werk bewußt verzichtet habe. Die Notation reduziert sich somit auf die weißen und schwarzen Tasten des Instrumentes und verlangt vom Interpreten eine große Bandbreite an einfühlsamen Anschlägen, um eine Art mikro-intervallisches Gewebe herzustellen, dessen äußerster Moment ein Abschnitt sein sollte, in dem das Material auf vier Noten des mittleren Registers reduziert ist. Die Anweisung Morente: "lento, intenso, con una infinita paleta de grados de intensidad, peso y luminosidad" (Morente: "langsam, intensiv, mit einer unendlichen Palette von Abstufungen an Intensität, Gewichtung und Leuchtkraft"), die diesem Abschnitt vorangestellt ist – eine Hommage an den großen Flamenco-Sänger Enrique Morente, an dessen Gesang, der sich stets in einer Unzahl von expressiven, dynamischen und mikro-intervallischen Nuancen entfaltet, der Pianist den Klang seines Klaviers annähern – sollte ist zugleich auch eine Definition der gesamten Partitur.
Aus diesem Meer von klangfarblichen, dynamischen und expressiven "mikro-intervallischen" Qualitäten taucht im Raum nach und nach eine Art mnemonischer lullischer Kreis (Raimundus Lullus, 1235 – 1316) auf, der in verschiedene Räume, Atrien oder Felder geteilt ist, die um einen zentralen Kern angesiedelt sind, eben die Cadenza. Dies ist weniger eine formale Konfiguration im traditionellen Sinn als eine spektrale Architektur, die sich ungemein langsam und kreisförmig verlagert, aus der und in die Leere gehoben wird. Ein Diagramm und ein Kreis der Erinnerung, die in ihrer Bewegung die unzähligen Nuancen des Funkelns, der Töne, Spiegelungen und des "Glockengeläuts" entfalten, die bei der Reibung der Erfahrung mit den äußersten Rändern der Intimität der Seele entstehen.
- Festivaljahrgänge
- Donaueschinger Musiktage 1998
- Themen in diesem Beitrag
- Mauricio Sotelo, AL FUEGO, DEL MAR für Klavier und vier Orchestergruppen