Donaueschinger Musiktage 1998 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 1998: "Akt, eine Treppe herabsteigend"

Stand
Autor/in
Mathias Spahlinger

Das gemälde von marcel duchamp aus dem jahre 1912, das den gleichen titel trägt, hat ähnlichkeit mit einer mehrfach belichteten fotografie. auch die eigentlichen futuristen, allen voran giacomo balla, haben die dynamik, die geschwindigkeit, von der sie fasziniert, ja berauscht waren, insbesondere wie sie im siegeszug der technisch-industriellen revolution erschien, als mechanische bewegung, in mechanistischer weise dargestellt: die kontinuität in stufen geteilt, in eine folge von momentaufnahmen. mit dem versuch, abläufe in der zeit in ihrem metier sichtbar zu machen, haben sie zugleich die raumauffassung verändert: mit den zeitschnitten sind die perspektivwechsel in die simultaneität des tafelbildes gebannt.

diesen künstlerischen darstellungen der bewegung vorausgegangen waren, von einem ersten traktat um 1350 über dieses thema von nicolas oresme einmal abgesehen, ab 1860 die bemühungen von physiologen, ingenieuren, fotografen, einem betriebsingenieur, bewegung mechanisch aufzuzeichnen und wiederzugeben. Die unterschiedlichsten methoden, sofern sie nicht analog und kontinuierlich sind, kreisförmig wie das rad, der phonograph, die schallplatte, haben sie alle eine eigenschaft, die hier interessiert, mit dem film und der digitalen schallaufzeichnung gemeinsam: die zerlegung der bewegung in ein raster von stehenden zeitpunkten, das, so eng es auch sein mag, doch nie die bewegung selbst ist, sondern, die sinne überlistend, diese simuliert.

die in technik und praxis unerheblich scheinende, die eigentümliche, sozusagen erkenntnistheoretische blindheit die in dem verfahren steckt, ist vielleicht der hauptschleichweg, auf dem der technisch-wissenschaftliche objektivismus, das alltägliche gesellschaftliche sein unser bewußtsein formt.

soll die dauer, die zeitspanne einer bewegung im raum gemessen werden, so müssen zeitpunkt und raumpunkt ohne ausdehnung gedacht werden. "jetztintervall und hierintervall sind contradictiones in adjectis" (liebrucks). daher kann von einem gegenstand gesagt werden, er ist in bewegung, wenn er zu einem bestimmten zeitpunkt an einem bestimmten punkt im raum ist und nicht ist; darum nennt hegel die bewegung das "unmittelbare dasein des widerspruchs".

die merkwürdigkeiten, in die sich formale logik, definierendes und identifizierendes denken angesichts der bewegung verwickelt, (spezifisch musikalisch): tonhöhen in kontinuierlicher bewegung, glissandi also, und deren darstellung in stufen ist das eigentliche thema des stückes. die skalen, in die die glissandi geteilt werden, können äquidistant sein, mit mehr oder weniger als 12 tönen pro oktave, oktavierend oder nicht, sie können teiltonreihen sein und sie können aus verschieden großen stufen bestehen, wobei über weite strecken auch hier tonhöhe und rhythmus aneinander gebunden bleiben, d.h. je größer ein intervall, desto länger die dauer bis zur nächsten stufe. immer ist mein hauptinteresse die gleichzeitigkeit (was immer das hier sein kann) der bewegten und der definierten tonhöhe. ein liegender ton, so kurz er sein mag, hat eine ausdehnung in der zeit. konfrontiert mit einem glissando, das ihn durchgleitet, ist er entweder noch nicht oder nicht mehr identisch mit der höhe des glissandos.

lebendige bewegeng (als akt das objekt des interessierten wohlgefallens) ist nicht dingfest zu haben; denn widerspruchsfrei und in besitz genommen ist sie nicht mehr bewegung.

Stand
Autor/in
Mathias Spahlinger