Donaueschinger Musiktage 2009 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2009: "doppelt bejaht"

Stand
Autor/in
Mathias Spahlinger

manchmal gibt es augenblicke in der musik, auch wenn sie an eine traditionelle form gebunden ist, die vom folgerichtigen hören dispensieren: in einem kontext von erwarteter qualität zwar, aber beglückend überraschend, den zusammenhang erhellend und übersteigend, geht ein licht auf, das die schönsten ziele und die tiefste motivation des autors beleuchtet, sein kindheitsmuster vielleicht; sie bezeichnen den konkreten unverwechselbaren geschichtlichen augenblick ihrer entstehung und die erfahrungsweise des individuums darin. solche "schönen stellen" hat auch die philosophie der politischen ökonomie. so entwickelt karl marx, inmitten der plackerei von exzerptheften*) über den austausch auf der basis des privateigentums, auf (für seine verhältnisse) wenigen seiten eine theorie von der entfremdeten arbeit und deren alternative, die, wie alle utopie mit wahrheitsgehalt, auf urvergangenes zurück und über gegenwärtiges elend weit hinausweist.

diesem text von marx ist der titel entnommen. künstlerische arbeit kann gelegentlich eine ahnung davon geben, was nicht entfremdete arbeit wäre. aber man täusche sich nicht. auch kunstwerke werden unter bedingungen des marktes erzeugt und verbreitet; mehr noch: ihre innerste zusammensetzung selbst ist von der produktionsweise abhängig, von den denkmustern der machtverhältnisse durchwirkt. so scheinbar für jeden klar wie täuschend, wirken hierarchien, wo, um die ideen eines komponisten durchzusetzen, ein dirigent vor das orchester tritt – und am ende bleibt dem publikum nichts zu tun, als zuzustimmen oder abzulehnen. diese illusion, der komponisten gerne anhängen, wird komplettiert durch die vorstellung, die distribution sei für die produktion da, nicht umgekehrt. aber mit der macht der gedanken der komponisten hat es nicht viel auf sich, wenn diese sich nicht mit den gedanken der macht auf schwer zu durchschauende weise (glücklich oder unglücklich) treffen. wie wirken machtverhältnisse, obwohl oder weil "keine macht monarchisch ist im himmel und auf erden. die absolute monarchie hebt sich überall selbst auf, denn sie ist objektlos; es hat auch im strengen sinne niemals eine gegeben." **)

analog zur politik im engeren sinne sind in der scheinbar harmlosen sphäre des kulturellen, die sich gerne selbst das über-, also apolitische ihres tuns bescheinigt, die macht- und produktionsinstrumente der bestehenden verhältnisse, wo sie omnipräsent sind, am wenigsten im bewusstsein. sie lassen nur schwer gedanken zu, die gegen dieselben gerichtet sind oder sie übersteigen. und wie in der politik ist die diskrepanz zwischen einerseits den möglichkeiten, die die explosionsartig gesteigerten produktivkräfte bieten und andererseits den erstarrten machtstrukturen, dem handfesten, mit jeder form der gewalt vertretenen interesse, die anachronistischen produktionsverhältnisse aufrecht zu erhalten, die signatur der epoche. prototypisch hierfür in der musik ist die rückwärtsgewandtheit, die nahezu ausschließliche orientierung an der tonalen tradition, ist die reduktion des zeitgenössischen auf ein "special interest". darin wiederum prototypisch sind die produktionsstrukturen mit ihrer starren arbeitsteilung und, ausfluss hiervon und diese reproduzierend, die notenschrift. ihr beispiel ist instruktiv.

die notenschrift ist hervorragend geeignet, tonale musik klingend (als resultatnotation) abzubilden und dieser adäquat. die neue musik aber fängt in allen ihren wesentlichen eigenschaften, negativ, mit a an: sie ist atonal, ametrisch, athematisch, amotivisch, asynchron, usw. – ihr hauptmerkmal ist die offenheit, selbstverständlich auch in der form. das ist ein wesenszug, den die notenschrift nicht hat, dessen verwirklichung sie behindert oder verhindert. alle errungenschaften der moderne, die musikalische verfahrensweisen reflektieren, in frage stellen, kritisieren und verändern, mussten gegen die widerstände der notenschrift und ihrer methodischen, aufführungspraktischen, reproduktions-technischen, betriebspraktischen und selbstverständlich ästhetischen implikationen entwickelt werden.

nichts ist einfacher für eine gruppe von selbstverantwortlichen musikern, in personalunion von komponist und instrumentalist, in ebenso vielen tempi zu spielen, wie musiker beteiligt sind. unterm diktat eines dirigenten ist dasselbe nur mit absurdem probenaufwand zu realisieren, weil der wille des einzelnen komponisten festgehalten ist in einem notationssystem, in dem der 4/4-takt der normalfall, eine ganze 3/4-takt pause bereits ein logisches problem ist, zu schweigen davon, dass 3 triolen-achtel zusammen ein viertel sind. weil der sinn des taktstriches die synchronisation ist und alle traditionelle musik, im sinne ihrer gestalthaften einheit, nur das einheitliche tempo für alle beteiligten kennt, sind bereits zwei unabhängig voneinander verlaufende tempi der partitur konträr, noch mehr natürlich uneinheitliche accelerandi und ritardandi. das von adorno reklamierte "menschenrecht, uneinheitlich zu denken" verweigert, verhindert die traditionelle notation. die beispiele ließen sich unendlich vermehren. was nicht tonal und taktmetrisch, synchronisiert, an stimmen als personen und deren einheitliche klangfarbe gebunden etc. ist, ist prinzipiell in der tonalen notenschrift als resultatnotation nicht darstellbar und muss mit einer fülle von sonderzeichen, aktionsnotation, verbaler erklärung, absurd angewachsenen zeichenerklärungen der konventionellen notenschrift abgetrotzt werden; aber selbstverständlich nicht ihr als isolierter, sondern den institutionellen, ideologischen, aufführungspraktischen, hierarchischen denkmustern, für die sie steht. apropos zeichenerklärungen: diese sind gelegentlich umfangreicher als die partitur selbst. drei verschiedene komponisten verwenden unter umständen neun verschiedene zeichen für das gleiche resultat. dieser umstand muss noch verteidigt werden, solange überhaupt traditionserweitert notiert wird, denn anders als die fixen töne im tonalen system sind klangfarben bestenfalls n-dimensional zu systematisieren, also in wechselnden zusammenhängen nur immer wieder anders, pragmatisch und so einfach wie möglich herleitbar und darstellbar.

hier setzt doppelt bejaht an. es geht (nicht um mitbestimmung, sondern) um selbstbestimmung; und um diese nicht unmittelbar sondern vermittelt: um das verständnis von kompositorischen verfahren und musikalischer praxis, die an voremanzipatorische denkstrukturen gebunden sind. die dritte posaunenstimme einer bruckner-sinfonie lässt, als teilarbeit eines hocharbeitsteiligen gefüges, keinen rückschluss auf das ganze zu, für sich genommen, keinen sinn erkennen; sie ist nicht weniger traurig anzusehen, als die einer komplexen orchesterpartitur unserer tage. in dieser hinsicht gibt es offenbar noch keinen fortschritt. das ist entfremdete arbeit. durch ein spontaneistisches "zerschlagt die institutionen" ist hier nichts zu erreichen.

spielanweisungen waren für "doppelt bejaht" zu erfinden, die die aufmerksamkeit und die verantwortung der musiker aufs ganze richten, das, weil es sich um neue musik handelt, nur ein widersprüchliches, in sich veränderbares und sich veränderndes, ein offenes ganzes sein kann. und spielregeln mussten formuliert werden, die das geschehen für die einflussnahme jedes einzelnen offen halten. die veränderte, offenere arbeitsweise der musiker sollte dem in alle richtungen offenen material der neuen musik angemessen sein.

doppelt bejaht bewegt sich zwischen den extremen konzeptualismus und kommunikationsspiel. beiden eignet, dass die spielanweisung nicht annähernd den akustischen und sozialen beziehungsreichtum (im unterschied zu einer partitur als summe der einzelentscheidungen des komponisten) darstellt, den das konzept ermöglichen soll. idealtypisch lassen sich die beiden ansätze so auseinander halten: für den konzeptualismus ist charakteristisch, dass eine einzige idee, in wenigen sekunden gefunden, in einigen minuten aufgezeichnet, viele minuten musik von anspruchsvollem komplexionsgrad auslöst (als beispiel bestens geeignet: "poème symphonique für 100 metronome" von ligeti). jedes stück neuer musik (das den namen verdient) hat konzeptuelle anteile, bestehen diese auch nur darin, dass mehrere musiker auf gleichen instrumenten denselben ton nacheinander spielen, der klangfarbenunterschied zwischen den verschiedenen instrumenten gleicher art oder den musikern, die sie spielen (was nicolaus a. huber "menschenklangfarbe" nennt) als differenzierung gemeint und zu hören ist, sich von selbst ergibt, aber als solcher nicht notierbar ist – und sich, nebenbei bemerkt, der analyse entzieht, sofern diese sich darauf verlässt, dass alle sinnhaft-sinnlich möglichen erfahrungen mit klang auf intention und konkreten entscheidungen von komponisten beruhen und im sinngefüge der partitur abgebildet sind. reiner konzeptualismus als mechanischer ablauf kommt in doppelt bejaht nicht vor. immer ist von seiten der musiker ein mindestmaß von entscheidung und kommunikation möglich und nötig.
das kommunikationsspiel dagegen kennt eine vorgabe, eine spielregel, eventuell ein repertoire von klangmaterial oder einen verlauf, der als solcher hohl bleibt, wenn er nur vom blatt gespielt wird. was von den musikern erbeten wird, ist eine kultur, nicht der pflichterfüllung, sondern des abweichenden verhaltens. was also als beitrag von den musikern erwartet wird, dass sie beitragen, sind nicht die akzidentien, sondern die wesentlichen eigenschaften. der lebendige unterschied, die andere sichtweise, die individuelle und unverwechelbare ausprägung, etc., was aus einem möglichen oder verabredeten verlauf eine lebendige entwicklung und bewegung in widersprüchen macht. genauso wichtig wie die 24 nummern ist die art und weise ihrer verknüpfung miteinander durch "verzweigung". oft sind die nummern selbst schon prozesse, und lassen widersprechende entscheidungen und auslegungen erwarten; in den verzweigungen am ende müssen die musiker zwischen jeweils drei möglichen wegen, zwischen drei möglichen folgenummern musizierend, eine entscheidung finden.

diese 24 vorschläge heißen im untertitel etüden. dies ist keine relativierung des anspruchs. verändertes denken, freiheit will geübt sein. große vorbilder, an denen man nicht gemessen werden möchte, sind so benannt: die für klavier von chopin, nicht zu reden von bachs klavierübungen.

das projekt doppelt bejaht hätte ich nicht gewagt, wenn ich es nicht auch als eine reverenz verstehen würde gegenüber dem swr-sinfonieorchester, auf dessen jahrzehntelange erfahrung mit neuer musik ich mich stillschweigend verlassen durfte.
ich hoffe, doppelt bejaht ist ein mögliches feld (für musiker, zuhörer und am meisten für mich selbst) zu lernen und zu üben und zu verstehen, was neue musik sei oder noch werden kann. ich sehe darin keineswegs, exklusiv, so etwas wie den einzig wahren weg. probleme in der neuen musik gibt es viele und vielgestaltige, die auf die unterschiedlichsten weisen bearbeitet werden wollen. dabei sind die standardisierten gar nicht, im kahlschlag, auszuschließen.

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*) historisch-ökonomische studien (pariser hefte) 1844; MEW, ergänzungsband 1, 459; MEGA IV 2, 462
**) hölderlin an isaak von sinclair, 24. 12. 1798. große stuttgarter ausgabe 6, 299; frankfurter ausgabe 19, 343

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Mathias Spahlinger