1. Teil: "Zerfall" für zwei Orchestergruppen und Tonband
"Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm."
(Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte)
Mein lieber Armin,
du bittest mich zu beschreiben, welche Überlegungen mich veranlasst haben, " Der Engel der Geschichte" zu komponieren, dabei aber nicht zu erklären, wie das Werk gemacht ist. Aus der Tatsache, dass ich es bezeichne "1.Teil: Zerfall", lässt sich natürlich unschwer schließen, dass es eine Fortsetzung geben wird. Ja, ich habe einen zweiten Teil vorgesehen mit dem Titel "Mars" (gemeint ist natürlich nicht frz. ‚März', sondern der Gott des Krieges) und einen dritten Teil, für den ich noch keinen Titel habe. In diesem letzten Teil, der in Form unlösbarer Fragen komponiert sein wird, kann man nichts Bejahendes mehr erwarten; es handelt sich um ein Nachdenken darüber, wohin unsere liebe Welt und Menschheit gegenwärtig treibt.
Übrigens war es nicht nötig, mich zu bitten, keine technische Erklärung des Werkes zu geben. Ich bin zunehmend allergisch geworden gegen "l'art pour l'art", oder anders gesagt, gegen die Position, die behauptet, die Strukturierung und Formierung der musikalischen Parameter (Frequenz, Rhythmus, Zeit...) seien notwendigerweise das einzige Kriterium des Komponierens, mit dem Ziel, ein reines kristallines Objekt zu schaffen. Vor einigen Jahren gingen wir beide in den Weinbergen oberhalb von Baden-Baden spazieren. Erinnerst Du dich an unsere Debatte? Ich sagte, daß seit dem Verschwinden der Tonalität die musikalischen Parameter zunehmend komplexer geworden sind und mir den Eindruck einer amorphen Grauheit geben, und daß ich in der Konsequenz mich auf Ideen außerhalb der Musik stützen musste, um – stimuliert durch diese – Musik komponieren zu können. Will sagen, dass die Technik der Komposition eines Werkes abhängig ist von etwas, was vielleicht wichtiger ist als die Musik selbst. Die kompositorische Technik ist für mich nicht Selbstzweck, sondern funktionell.
George Steiner paraphrasierend, gibt es einen primären Diskurs – das musikalische Werk, in unserem Fall "Der Engel der Geschichte". Ist das Werk einmal vollendet, erscheint ein sekundärer Diskurs, eröffnet von Personen, die das künstlerische Werk analysieren. Dieser sekundäre Diskurs – wie auch immer – trägt in sich etwas Illegitimes, Parasitäres. Und dann gibt es die Kommentare des Komponisten selbst... Was mich betrifft, sind sie eher lästig, vor allem entschärfen sie die Härte oder das Geheimnis der Musik, und sie verwandeln den Hörer in einen Detektiv, der beim Hören vor allem versucht wiederzuerkennen, was man ihm erzählt hat.
Wenn ich versuche, mit dem Umweg über die Musik Probleme anzuschneiden, die sich außerhalb der Musik befinden, wäre es absurd, anschließend meine Absichten mit Worten erklären zu wollen, wenn ich mich doch mit Hilfe von Tönen ausgedrückt habe, welche ihrer Natur nach abstrakter und geheimnisvoller sind. Ich betrachte das Hören und Dechiffrieren eines Werkes als einen kreativen Akt des Zuhörers, abhängig von dessen Kultur und Sensibilität. Also vertrauen wir ihm und erlauben, ohne ihn beeinflussen zu versuchen, sich sein eigenes Kino im Kopf zu machen.
Ich bin in meinem Leben als Interpret eine Menge von Zuhörern begegnet, aber ich habe lange gebraucht, um zu begreifen, dass es nicht ein Publikum ist, das ich vor mir habe, sondern Individuen, von denen nicht zwei dieselben Lebenserfahrungen haben. Ich komponiere ein Werk. Ist es fertig, stecke ich es in eine Flasche und werfe es in das "Meer der Hörer", natürlich ohne eine Vorstellung von der Identität des Finders oder der Finderin zu haben. Der einzige Kommentar, den ich machen kann, ist: "Sie mögen es? Sehr gut! Sie mögen es nicht? Auch gut! In jedem Fall ist es zu spät, ich denke bereits über das nächste Werk nach."
Wenn ich meine Musik erklären soll, fühle ich mich nur wohl, wenn ich einem Gesprächspartner in die Augen sehen kann oder wenn ich den Adressaten eines Textes persönlich kenne. Ich habe niemals an der Bar ein Glas mit dem Publikum getrunken, sondern mit Jean oder Jeanne. Ich habe auch niemals ein Glas am Tresen geleert mit einer Nation, sondern mit Boris oder Carolyn. Sollten da die Gründe für meinen unerbittlichen Anti- Nationalismus zu suchen sein?
Du hast es erraten, lieber Armin, auch davon ist die Rede in dem Werk, das Du mich batest zu kommentieren.
Vinko
Ich danke Herrn Julijan Strajnar vom Musikethnologischen Institut Ljubljana für die Beschaffung der alten Volksmusikaufnahmen aus dem Gebiet des früheren Jugoslawien und Dr. Niksa Gligo, der mir die Hymnen der neuen Balkanstaaten zur Verfügung gestellt hat.
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- Vinko Globokar, Der Engel der Geschichte für 2 Orchestergruppen und Tonband (1. Teil: Zerfall)
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