Donaueschinger Musiktage 2000 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2000: "Modell"

Stand
Autor/in
Michael Treichel

Mark Andre

Teilchenphysik und Musik

Nicht unmittelbar leuchtet der Zusammenhang zwischen Musik und Teilchenphysik ein. Zwar wird uns in diesem Bach-Jahr in Erinnerung gerufen, dass sich schon der Leipziger Meister bemüht hat, die Strenge der exakten Wissenschaften mit der schöpferischen Freiheit der Kunst zu versöhnen. Doch blieb dies ein vereinzelter Versuch, und keineswegs hat sich daraus eine dauerhafte, fruchtbare Verbindung ergeben. Mit der Romantik haben sich sogar eher Antagonismen herausgebildet. Im 20. Jahrhundert zeigen sich Gemeinsamkeiten. Physik und Musik haben sich auf eine erstaunlich parallele Art entwickelt. Beide haben sich ziemlich radikal von vertrauten Begriffen distanziert und einen hohen Grad der Abstraktion erreicht: "Melodie", "Thema" und "Harmonie" sind genauso fragwürdige Kategorien geworden wie "Trajektorie" und "absoluter Raum". Aber Parallelismus bedeutet noch lange nicht, dass gemeinsam gearbeitet worden wäre. Vielmehr haben die einschlägigen Gedankengänge sich in beiden Gebieten – wie auch in anderen – auf ihre ganz eigene, unabhängige Art durchgesetzt, ohne unmittelbare Wechselwirkung.

Der Titel des Stücks von Mark Andre, "Modell", hat allerdings eine direkte Entsprechung in der Physik. Der Begriff wird in verschiedenen Zusammenhängen benutzt, denen jedoch ein Gesichtspunkt gemeinsam ist: die Erkenntnis, dass Wissen begrenzt ist. Das Konzept des Modells erlaubt, den Gültigkeitsbereich eines Gedankengangs oder eines Gedankengebäudes einzuschränken. Man nähert sich der Wirklichkeit in dem Bewusstsein, sie nicht ganz zu erreichen. In diesem Sinne entwickeln Theoretiker Modelle, in denen die fundamentalen Bestandteile der materiellen Welt und ihre Wechselwirkungen beschrieben werden, Experimentalphysiker brauchen Modelle, um ihre Daten zu interpretieren. Dem Stück Mark Andres liegt eine Variante des Begriffs zu Grunde, die einen besonders anschaulichen, der sinnlichen Erfahrung direkt zugänglichen Charakter hat: Teilchenkollisionen in Beschleunigern führen in den komplexen Detektorsystemen, die zu ihrem Nachweis gebaut worden sind, zu zeitlich streng voneinander getrennten Ereignissen mit ganz charakteristischen räumlichen Topologien. Spuren geladener Teilchen laufen aus dem Innern hinaus, mehr oder weniger konzentriert in "Jets", werden in Magnetfelder auf kreisbogenartige Bahnen gebogen und erlauben dem Physiker, die mikroskopischen Vorgänge in der Kollision visuell zu erfassen, bevor er sie im Einzelnen rekonstruiert. Solche Ereignisse in Musik abzubilden, sie akustisch zu modellieren, ist die ratio des Stücks "Modell". Ganz konkrete Ereignisse und ihre numerische Darstellung, wie Koordinaten, Energien und Impulse, wurden herangezogen, um das musikalische Material aufzubereiten.

Dass dadurch eine ganz neue Erfahrung eines ziemlich spektakulären Stücks Wirklichkeit ermöglicht wird, macht Mark Andres Komposition zu einem spannenden künstlerischen Erlebnis. Denn die genannte Begrenztheit des Wissen wird auf diese Art zwar besonders deutlich, nämlich sinnlich, vermittelt, aber gleichzeitig werden die unvermeidlichen Grenzen geöffnet oder zumindest erweitert.

Stand
Autor/in
Michael Treichel