Donaueschinger Musiktage 2000 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2000: "The Long Rain"

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Olga Neuwirth

Ausnahmezustand und Überhöhung. Ein Gespräch mit Olga Neuwirth über das Film-Musik-Projekt "The Long Rain" von Stefan Drees

Stefan Drees: "The Long Rain" - so heißt eine Geschichte, die der amerikanische Science Fiction-Autor Ray Bradbury 1951 in seinem Erzählungsband "The Illustrated Man" veröffentlicht hat. Wie bist du auf die Idee gekommen, diese Geschichte als Vorlage für eine Komposition zu wählen?

Olga Neuwirth: Ich habe die Erzählungen von Bradbury vor gut drei Jahren entdeckt, als ich mitten in der Arbeit an "Bählamms Fest" war. Es gibt da viele interessante Aspekte, so etwa die Story vom Kinderzimmer, "The Veldt", die mich sehr fasziniert hat: ein Zimmer, das die Wünsche der Kinder erfüllt, ein perfektes Medium der Unterhaltung, das am Ende zur Todesfalle für die Eltern wird - das fand ich interessant, weil in "Bählamms Fest" ja der Ort des Kinderzimmers auch eine wichtige Rolle spielt, nämlich als Zufluchtsort vor der Realität... Aber in "The Long Rain" geht es um etwas anderes...

SD: ...nämlich um die Piloten eines gestrandeten Raumschiffs, die in der lebensfeindlichen Umwelt eines fremden Planeten nach einer Zuflucht suchen - nach einer jener "Sonnenkuppeln" oder "Sundomes", die als Schutzhülle vor dem permanenten Regen gebaut wurde...

ON: Das ist schon richtig... Für mich ist dabei aber ein ganz bestimmter Aspekt von Bedeutung: Bradbury zeigt in der Geschichte, wie sich während der Suche die Gefühle und Verhaltensweisen der vier Männer unter dem Einfluss der Außenwelt verändern: die äußeren Bedingungen sind hier so extrem, dass der Mensch eigentlich nicht mehr existieren kann. Der Terror des unaufhörlichen Regens ist so stark, dass man durchdreht und vollkommen zurück geworfen wird auf die menschlichen Urbedürfnisse - bis der Punkt kommt, an dem man sagt: "Ich will Ruhe, ich will nichts mehr hören, ich will einfach, dass dies alles aufhört!" Und dafür steht eigentlich der "Sundome". Der Terror der Außenwelt ist ja auch die Ursache dafür, dass die Männer alle so extrem reagieren: Es werden die Extreme aus den Menschen herausgeholt - und genau das ist das Furchtbare an dieser Geschichte.

SD: Also interessieren dich vor allem die psychologischen Momente der Erzählung?

ON: Genau. Es ist der Ausnahmezustand, den Bradbury hier beschreibt - dieses Ausweglose, von dem man glaubt, dass es nicht mehr aufhört. Was passiert da psychologisch mit den Menschen? Wie verändern sie sich unter diesem permanenten Strömen des Regens, das ja im Grunde auch ein unablässiges Einströmen von Informationen - nämlich Geräuschinformationen - ist? Und gleichzeitig ist die Situation eine Überhöhung der Realität, wie sie eben auch im Surrealismus zu finden ist.

SD: Bei alldem ist natürlich auch die metaphorische Bedeutung des Regens von zentraler Bedeutung.

ON: Ja, das ist sehr wichtig. Regen meint immer auch Trauer...

SD: ...so bei Hanns Eisler in den "Vierzehn Arten, den Regen zu beschreiben"...

ON: ... aber auch in der Bildersprache des Kinos, etwa im japanischen Film. Wenn du das Weinen beim Menschen nicht zeigen kannst, dann zeigst du es eben durch die Natur. So bei Akira Kurosawa: In den grausamsten Szenen, wenn überall Gewalt herrscht, regnet es. Der Regen ist erstens wie eine Glaswand: Man bringt das grausame Geschehen weiter in den Hintergrund, weil man durch die Intensität des Regens nicht mehr alles sieht. Und zweitens symbolisiert er die Trauer, das Beweinen...

SD: Kommen wir doch einmal auf den Film von Michael Kreihsl zu sprechen, der ja im Grunde an solchen Bildern anknüpft. Du hast bereits früher mit Kreihsl zusammen gearbeitet...

ON: Ja, er hat die Filmeinspielungen zu meinem Musiktheater "Bählamms Fest" realisiert. Und ich hatte dann halt die Idee, aus der Erzählung von Bradbury ein großes Projekt mit Musik und Film zu machen... Das Zusammenwirken von Musik und Film hat mich ja schon immer interessiert, und "The Long Rain" ist nicht das erste Stück von mir, in dem ich mit ihr arbeite. Was mich an solchen Projekten besonders reizt, ist die Verbindung von visuellen und akustischen Elementen mit ihren vielfältigen Möglichkeiten des Ausdrucks, aber auch mit all ihren Grenzen und Gefahren. Ich habe schon öfter in kleinerem Maßstab damit gearbeitet, etwa in "Canon of Funny Phases" mit Trickfilmen von meiner Schwester Flora und mir oder eben an verschiedenen Stellen von "Bählamms Fest" mit Michael Kreihsls Filmeinspielungen. Die andere Sache, die bei diesem Projekt eine Rolle spielte ist die, dass da plötzlich zwei Leute mit völlig unterschiedlichen Auffassungen zusammenkommen, eben ein Regisseur und eine Komponistin. Und beide müssen nun versuchen, aus ihren abweichenden Vorstellungen ein gemeinsames Konzept zu entwickeln, in dem jeder auf seine Weise präsent ist - eine Sache, die unheimlich spannend ist...

SD: Und dann habt ihr Bradburys Geschichte gemeinsam in ein Drehbuch umgesetzt?

ON: Ja, wir haben zunächst einmal unsere Vorstellungen gesammelt und dann das Drehbuch zu "The Long Rain" verfasst. Die Geschichte wird da in insgesamt neun Bildern erzählt. Ihnen stehen einige kurze Sequenzen aus kontrastierendem Bildmaterial gegenüber, die durch ihr abruptes Auftauchen die Filmhandlung zerschneiden. Dieses Material weist etwa auf die Gleichschaltung hin, die wir heute in vielen Bereichen der Gesellschaft haben - also auf das, was in Bradburys Geschichte ebenfalls eine ganz zentrale Rolle spielt und durch das Auswaschen des Regens geschieht: die Nivellierung des Einzelnen bis zur völligen Unterschiedslosigkeit.

SD: Aber wie ich beim Lesen des Drehbuchs gesehen habe, gibt es im Film ein wesentliches Element, das in Bradburys Vorlage nicht vorkommt.

ON: Richtig. Den vier Personen wird im Film eine fünfte zugeordnet - ein Trompeter, der den Raumfahrern immer folgt und ihr Verhalten gewissermaßen musikalisch begleitet. Und wenn ein Musiker bei einem Film mitarbeitet, dann war die Idee, dass auch in musikalischer Hinsicht irgendetwas von der Leinwand herunterkommen muss, so dass das Ensemble, das ja wie bei einem Stummfilm live zu den Filmbildern spielt, wieder zurück zur Filmleinwand antwortet.

SD: Neben der live gespielten Musik gibt es also auch Musik, die in die Tonspur des Films integriert ist?

ON: Ja, der Trompeter spielt im Film immer wieder irgendwelche Patterns vor sich hin, wie ein Autist, und dann reagiert der Trompeter vom Live-Ensemble zurück, quasi als Echo... Und es gibt auch weitere Filmmusik an Stellen, an denen ich keinen musikalischen Kommentar vom Ensemble abgeben wollte.

SD: Wie muss ich mir denn nun die Aufführung von Film und Musik konkret vorstellen?

ON: Also zunächst einmal gibt es drei Filmleinwände, die sich vor und seitlich vom Publikum befinden.

SD: Sieht man darauf dasselbe oder zeigen sie verschiedene Szenen?

ON: Unterschiedlich. Michael Kreihsl hat einige Szenen mit mehreren Kameras gefilmt, um so bei der Projektion einen vollständigen Raum wiedergeben zu können. Dadurch wird es möglich, an manchen Stellen auf den verschiedenen Leinwänden jeweils etwas anderes zu zeigen - eine gebrochene Information also. Das ist ein wichtiger Aspekt - der große Raum, aber auch die Möglichkeit des Aufsplitterns eines einzigen Geschehens in verschiedene Perspektiven. Und wie die Filmbilder an mehreren Orten zu sehen sind, ist auch die Musik räumlich organisiert: Es gibt Lautsprecher für die Live-Elektronik, zu denen auch die vier Lautsprecher der Filmleinwände gehören - die Live-Elektronik dient dazu, den Raum noch einmal stärker zu bewegen. Dann ist das Orchester in vier Gruppen aufgeteilt, die um die Zuhörer herum angeordnet sind. Und es gibt außerdem noch vier Solisten zwischen den Orchesterpodien, nämlich Bassklarinette, Flöte, Tuba und Saxophon. Das Publikum ist also von den Musikern geradezu umkreist und wird sozusagen von den Klängen beschossen - man sitzt dort mittendrin und soll keine Möglichkeit haben, dem Ganzen zu entkommen, erfährt also auch diese Beengung durch eine ausweglose Situation.

SD: Kannst du mir noch einige Details zur Instrumentation und zur Beschaffenheit der Musik mitteilen?

ON: Mein Ausgangspunkt bei der räumlichen Anordnung war, dass die erste Achse von zwei gegenüberliegenden Schlagwerken gebildet wird, die zweite - ebenfalls gegenüberliegend - von E-Gitarre und Klavier. Ich habe also jeweils Klänge mit Ausklang genommen; das Klavier hat auch immer das Pedal gedrückt, durch das ganze Stück hindurch. Dazu kommen dann tonräumliche Effekte, zum Beispiel: eine Geige sitzt in der einen Gruppe, eine andere in der gegenüberliegenden, um einen Viertelton tiefer gestimmt. Das heißt, über die Diagonale hinweg haben die Geigen bereits eine leicht verschobene Klangfarbe... Schließlich noch etwas zur Musik selbst: Die Sprache kommt ja wirklich nur vom Film. Den Regen hörst du zwar als O-Ton von den Lautsprechern der Leinwand, doch wird er eigentlich erst von den Musikern in seiner ganzen Identität akustisch geliefert. In diesem Sinn ist die musikalische Ebene auch eine ganz eigene Ebene dieses Projekts, in der ich unter anderem auf musikalische Verfahren der Variation zurückgreife und sie mit Elementen der Ritornellform verbinde.

SD: Und in welchem Verhältnis stehen Musik und Film zueinander?

ON: Nun, im Idealfall sind Musik und Film eben zwei verschiedene Ausdrucksbereiche, die sich hier ergänzen. Dabei ist die Musik aber schon so konzipiert, dass sie auch getrennt aufgeführt werden könnte. Natürlich kommentiert sie die Filmhandlung, das habe ich ja schon angedeutet, oder sie bildet Kontrapunkte zu dem Geschehen. Aber dennoch bleibt ihre Unabhängigkeit gewahrt, und sie kann auch ohne Bilder auskommen.

SD: Wenn man die Gleichschaltung durch den Terror der Außenwelt als zentralen Aspekt von Bradburys Geschichte begreift, muss man feststellen, dass das ganze Projekt inzwischen einen hochaktuellen politischen Akzent bekommen hat...

ON: Nun, das ist eben so bei mir: ich bin eigentlich immer politisch...

Das Gespräch fand am 13. Juni 2000 in Venedig statt.

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SWR