Donaueschinger Musiktage 2001 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2001: "4Ω"

Stand
Autor/in
Christof Schläger

Musik ohne künstliche Zusätze für einen Instruktor und 11 Instrumentmaschinen

Ich glaube, wir sind längst Teil einer alle Lebensbereiche durchdringenden Geräusch-Kultur geworden. Alltägliche Erfahrungen gewöhnen uns an eine Welt voller merkwürdiger Apparate und Maschinen. Unsere alltäglichen Lebensumstände erzeugen zwangsläufig vor allem Geräusche, wahrscheinlich kann man die Zivilisation zuerst hören. Ballungszentren mit Klimaanlagen, industriellen Großanlagen, Hochspannungstransformatoren, Umspannwerken, Generatoren, entfalten eine elektrifizierte Geräuschlandschaft. Aus den Resonanzen und Reflexionen dieser Quellen ist besonders nachts ein hörbares, seltsames Grundrauschen zu vernehmen. Längst hat das faktische Leben meine Wahrnehmung und mein Bewusstsein bis in die tiefsten Ecken mit diesen Geräuschen durchdrungen und geformt. Was liegt eigentlich näher, als sich der Erzeuger dieses Geräuschteppichs zu bemächtigen und nicht länger die Kennzeichen unserer zivilisatorischen Realität zu ignorieren?

Inspirationen liefert dieser Geräuschteppich genügend. Es kann sein, dass ich an einem schönen Sommerabend auf dem Balkon sitze und aus der Ferne die Geräusche eines Bahnhofs wahrnehme. Aus dem Grundgeräusch heben sich bremsende Güterzüge ab. Ein Chor aus quietschenden Bremsbelegen und Rädern. Ein außergewöhnlicher Klangraum. Es folgen viele Experimente mit reibenden Scheiben, Bremsklötzen aus verschiedenen Materialien. Ich begebe mich dabei auf unbekanntes Terrain, in einen unstrukturierten, unerforschten, chaotischen Klangraum.
Je weiter die Experimente mit dem Geräusch-Phänomen gehen, um so mehr Eigenschaften werden hörbar. Phasen der gleichmäßigen Veränderung und Zustände des sprunghaften – oszillierenden Verhaltens. Besonders an diesen "Grenzflächen" entstehen variationsreiche, aus dem Material selbst hervorkommende, oszillierende Klangformen. Das Stoffliche spricht seine eigene Sprache. Das kann der Arbeit eine neue und unerwartete Richtung geben. Ein Beispiel ist das Instrument Rauscher. Ursprünglich wollte ich nur das Zischen unter Druck stehender Luft gestalten. Hinter den Luftventilen habe ich lange Schallbecher montiert. Beim Spielen entdeckte ich unerwartet, dass ganz kurze Luftstöße die Luft im Schallbecher komprimieren und einen perkussiven Ton erzeugen. Eine weitere, kennzeichnende Eigenschaft des Instrumentes war entdeckt. Das geschieht nicht immer, aber ich greife gerne Phänomene aus dem Material selbst auf und entwickle sie weiter.

Das Ergebnis solch experimentellen Forschens ist ein neuer Geräuschtöner. Das ursprüngliche Phänomen kann dann mit Hilfe einer Regelelektronik und elektrisch-mechanischer Geräte kontrolliert gespielt werden. Form und Funktion bilden eine Einheit und lassen manche Objekte zu Skulpturen werden. Eine Computersoftware steuert mit Midi-Signalen die Regelelektronik. Auf diese Weise können die Aktionen der Geräuschtöner vom Notebook aus komponiert werden.
Das Arbeiten mit einem Medium jenseits der harmonischen Töne bedeutet jedoch nicht gleichzeitig Ungenauigkeit oder Zufälligkeit. Ganz im Gegenteil erfordert das Erzeugen von konkreten Geräuschen ein hohes Maß an Kontrolle. Erst dadurch kann die klangliche Erscheinung komponiert werden.
Auch am transformierten Geräusch eines Instrument-Objektes, haftet immer eine ursprüngliche Geräusch-Assoziation. Beim Hören der Geräusche können die eigenen inneren Bilder, Erinnerungen und Situationen wach werden.
Form und Funktion der Objekte erstreckt sich auch auf die Ausdehnung und Verteilung der Objekte im Raum. Die Gesamtwirkung entfaltet sich durch diese Konstellationen der Objekte zueinander und ermöglicht ein Zusammenspiel von klanglicher Raumtiefe. Ein Teil der akustischen Atmosphäre einer Metropole klingt hier mit, die aus vielen näheren und fernen Ereignissen besteht.

Was als wirklich neu an meiner Musikform empfunden wird, muss letztlich der Besucher mit eigenen Ohren und Augen erschließen. Für meine Arbeit sind solche Fragen nicht interessant. Ich handle aus Notwendigkeit. Sich künstlerisch ausdrücken zu wollen, aber nicht die geeigneten Mittel zur Verfügung haben, führt zwangsläufig zu neuen Formen. Insofern ist die Frage nach dem Neuen eine Frage nach dem sich immer wieder Erneuerndem: ein Prozess, der sich manchmal beschleunigt oder etwas verlangsamt, aber niemals aufzuhalten ist, weil er das Wesen des Lebendigen selbst ist.

Stand
Autor/in
Christof Schläger