Donaueschinger Musiktage 2001 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2001: "Léon et le chant des mains"

Stand
Autor/in
Jacques Rémus, aus dem Französischen: Florance Canette
Jérome Jeanmart, aus dem Englischen: Lydia Jeschke

Big Bang

Existieren in der Natur, die man sich von jeder menschlichen Tätigkeit unberührt vorstellt, Gegenstände oder Elemente, die sich um sich selbst drehen? Welcher Felsen, welche Wolke, welcher Baum, welche Wasser- oder Sandmenge, welche Blume oder welcher Schmetterling führt eine periodische und regelmäßige Drehung um sich selbst durch?

Es gibt keine Drehung und keinen Umlauf, die in der uns umgebenden Natur zu vernehmen sind. Nichts dreht sich um...

Es ist der Mensch, der das Karrenrad, die Schiffsschraube, die Windmühlenflügel, die Räder der Lotterie, die Waschmaschinentrommel und das Holzpferdenkarussell erfunden und gefertigt hat. Das ganze Universum ist jedoch seit dem Big Bang nach einem Grundprinzip organisiert : der Drehung oder eher dem Umlauf. Die Elektronen um den Kern in den Atomen, die Gestirne, die einen um die anderen oder um ihre Achse wie die Erde, alles dreht sich!

Alles dreht sich? Aber diese Bewegungen sind weder zu sehen, noch zu vernehmen. Die sehr langsamen Umdrehungen der Sonne oder des Mondes im Himmel haben nicht den Rhythmus unseres Wortes, unserer Muskeln, unseres Atems oder unseres Herzschlags. Das biologische Leben und das menschliche Denken scheinen dieselben linearen Bahnen zu haben wie die Zeit. Auch wenn man mit Begriffen wie Zeitzyklen umgeht, ist keine wirkliche geometrische Kreisbewegung darin. Erst wenn man eine Maschine wie ein Karussell herstellt, kann man die periodischen Orbitalbewegungen der unendlich kleinen und unendlich großen Welten unseres Universums konkret veranschaulichen.

Kindheits- und Rotationserinnerungen

Erinnerung Nr. 1: In seinem Zimmer ließ er eine alte und ein wenig rissige Weltkarte sich drehen, die aus Gips und Messing gemacht war. Sie quietschte und quiekte gewissenhaft bei jeder Drehung und es träumte ihm, dass er sehr hoch in den Raum flog, um sie anzusehen. Die Erde war sein Karussell.

Erinnerung Nr. 2: In der Ölmühle des Großvaters gab es einen großen elektrischen Motor, der durch vielfache Lederriemen wundervolle Maschinen in Gang setzte. Eine von ihnen war ein mächtiger Mühlstein, der sich auf einem Gestell drehte, dessen Durchmesser einige Meter groß war, und die geschälten Nüsse zermalmte. Er betrachtete stundenlang diese Doppeldrehung, während zehn zyklische Melodien, die alle von einem einzigen Motor synchronisiert waren, in der kleinen Ölmühle zu hören waren.

Tänze

Die Ritualtänze der Gesellschaften, die unseren vorausgegangen sind und Krieg oder Regen feierten, rührten wahrscheinlich von der Umdrehung in magischen oder heiligen Kreisen her.

Das Finale des Karnevals von Dünkirchen in Frankreich ist vielleicht eine der letzten Illustrationen der rituellen Rotationstänze, die die Menschheit geprägt haben.

Das Zureiten der Pferde und das Training der Reiter haben selber die runden Reitbahnen für die Drehungen der Zentauren hervorgebracht: die Manegen. Die Karussells waren ihre Tänze, ihre festlichen Paraden.

Karussells

Aber auf diese Weise drehen sich heute wenig Menschen oder Tiere. Die sichtbaren Drehungen sind mechanisch. Handräder und vor allem allerlei Motoren sind der Ursprung dieser Bewegungen, die ab und zu unseren Blick auf sich ziehen, anlocken, faszinieren.

Einige Rotationsbewegungen haben überhaupt keinen Nutzen und dienen weder dem Transport noch der Produktion. Sie dienen zum Selbstvergnügen. Das sind Jahrmarktskarussells, die aus Holzpferden, Automobilen und Flugzeugen von der Größe eines Kindes bestehen.

Der Spaß ist dann sowohl Karussell zu fahren, als auch dem Drehen des Karussells zuzuschauen.

Als symbolische und unbewusste Vorstellung der Grunddrehungen unserer körperlichen oder psychologischen Existenz ist das Karussell die Rotation schlechthin.

Die Personen im Karussell und die, die außen herumstehen, sehen sich unaufhörlich erscheinen und verschwinden. Das Karussell ist immer das gleiche, aber der Spaß, von einer Runde zur anderen die Personen wiederzufinden, die ein paar Sekunden lang verschwunden waren, ist immer neu.

Die Umdrehung, die in der vernehmbaren Natur fehlt, ist da, konkret, sichtbar, spielerisch.

Das Erscheinen-Verschwinden, das Trennen-Wiedersehen, das Leben und der Tod des Blickaustauschs gestalten sich auf diese Weise im Rhythmus von zwei bis fünf Runden pro Minute, manchmal mehr. Wir befinden uns hier in Geschwindigkeitsskalen, die von dem hyperschnellen Pulsieren des unendlich Kleinen oder von dem sehr langsamen des unendlich Großen weit entfernt sind. Das sind Werte im Maßstab der Biologie, in unserem eigenen Maßstab.

Musik

Nichts Erstaunliches also, wenn die Manegen und Karussells, die für das Vergnügen der Augen und der Raumempfindungen geeignet sind, von der Musik nicht zu trennen sind. Die rhythmischen Musikelemente sind in Werten, die dem Drehen des Karussels ähnlich sind, oder in einfachen Multiplen dieser Werte enthalten. Wir sind in der Welt des Pulsschlags unserer Zellen und Organe. Die Musik, bevorzugte Sprache unserer Sinne, findet dann im Karussell einen vortrefflichen Ursprung: die Wiege. Wiege, weil Pulsieren, Umdrehen oder Balancieren zu den Grundelementen des menschlichen Vergnügens gehören.

Die Verbindung zwischen dem Karussell und der Musik ist so stark, dass die ersten Karussells, die sich Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt haben, sofort mit raffinierten Instrumentarien der mechanischen Musik versehen wurden, wie den Drehorgeln. Ihr Zusammenspiel ist ein Weltklischee geworden. Es gibt in Paris, im Jardin du Luxembourg, ein aufgrund seiner Stille außergewöhnliches Karussell. Man kann wetten, dass Sie, wenn Sie es beobachten, seine Musik hören, eine laute Musik, obwohl es in Wirklichkeit nur das Gelächter der Kinder gibt, die sich auf den Holzpferden fortbewegen.

Es ist also kein zufällig entstandenes Abenteuer, das in wenigen Monaten Musiker dazu gebracht hat, sich ein Jahrmarktskarussell anzueignen, um darin zu spielen, und die Musik im Drehen zu entwickeln.

Schlagzeugspiele, in welchen die Papplöcher der Drehorgel Holzhebel sind, die einer nach dem anderen betätigt werden.

Melodienspiele, in welchen die Röhren eines Riesenglockenspiels im Kreis spielen, frei von jedem Zwang, oder mit der rhythmischen Basis der Hebel, die dauernd geändert werden.

Spiele der Musiker und ihrer Körperlaute, die von einem anderen Spiel wiederaufgenommen und verwandelt werden, dem Spiel der dirigierenden und hantierenden Hände. So entstehen die Klänge einer Musik, die unerbittlich mit dem Drehen des Karussells verknüpft ist, das sie trägt. Das ist Léon et le chant des mains.

"Léon et le chant des mains" ist durch die Zusammenkunft mehrerer Träume entstanden: Träume von Geigenbauern, Musikern, Erfindern und Dichtern.

Es gibt den Traum einer Riesenspieluhr, deren Noten man nach Belieben verändern kann.

Es gibt den Traum einer Musik, die von der einfachen Handbewegung im Raum erzeugt wird.

Es gibt den Traum einer mechanischen Welt, die von menschlichen Befehlen und elektrischen Energien gebildet wird, und diese spielen Musik, wie kein Instrumentalist es kann.

Es gibt schließlich den Traum eines Karussells aller Kindheiten, das sich ohne Ende dreht, wie ein Schamane oder ein Derwisch, der mit dem Lächeln des Wissens erleuchtet ist.

"Léon et le chant des mains", das ist die attraktive Musik des Jahrmarktsobjekts, aber es beinhaltet vielleicht den Klang, die Klänge der Grunddrehungen, die Vielfältiges symbolisieren.

Da gibt es auch sicher die Musik, die in den Kopf des jungen Kindes eingefallen ist, das über sein Haus hochging, um zu sehen, wie das Erdenkarussell sich dreht!

Jacques Rémus

Das A Chahuter Collective

Das A Chahuter Collective versucht, Designer und Musiker mit unterschiedlichem kreativem Horizont zusammenzubringen. Im Sinne seines Ziels, die zeitgenössische Kunst auf die Straße zu tragen und ein breiteres Publikum zu erreichen, produziert das Kollektiv hybride Kreationen an der Grenze zwischen Jahrmarktskünsten, mechanischer Musik und neuer Technologie.

Leon Napakatbra, der riesige mechanische Schlagzeuger

Während die technische Evolution dazu tendiert, die Größe von Maschinen mehr und mehr zu reduzieren und deren Mechanismen immer weniger wahrnehmbar werden, tut Léon Napakatbra genau das Gegenteil und dreht die Skala um: Die Dimensionen wachsen, die Lautstärken nehmen üppige Formen an, und die Mechanik wird sichtbar...

Auf der Basis eines metallenen Karussells mit einem Durchmesser von acht Metern und sieben Metern Höhe ist Léon Napakatbra einzigartig in seiner Größe, Flexibilität und musikalischen Präzision. Ausgehend von Jeraniums Vorstellung ist er das Ergebnis einer intensiven Zusammenarbeit zwischen Musikern, Ingenieuren und Konstrukteuren, alle begeistert von mechanischer Musik.

Außen sind vier fixierte "drum style" Intallationen (bass drum, tom, snare drum, cymbal) die rhythmische Basis. Mit Hilfe einfacher Mechanismen werden die verschiedenen Schlagelemente von Léons Armen gespielt. Es handelt sich um 132 Arme, die auf dem Karussell befestigt sind und wie die Schlägel eines Schlagzeugers von innen durch die vier Musiker eingesetzt werden.

In permanenter Rotation auf der Bühne wählen die Musiker ihre Rhythmen mit großer Präzision aus, indem sie speziellen Anweisungen des Leiters folgen. Abhängig von dem loop, den sie programmiert haben, improvisieren die Musiker mit ihren eigenen Instrumenten im Zentrum der Bühne. Dann nimmt ein wirkliches Orchester Platz. Die Schlagzeuggruppe wird von Léon übernommen und von seltsamen Instrumenten begleitet: einer 15saitigen Gitarre, einem automatischen Bass, einer selbstgemachten Trompete, einem geräuschvollen Fahrrad, anderen Schlaginstrumenten... Darüber hinaus spielt Léon wirklich neu- und einzigartig: Er ermöglicht ein Werk über Klangzirkulation im Raum. Und er kann einen Ryhthmus spielen, indem er die Schläge über die vier drums verstreut. Damit wird die Zeit geteilt und im Raum beweglich. Das Publikum kann eine wirkliche Klang-Architektur sehen.

Jérome Jeanmart

Stand
Autor/in
Jacques Rémus, aus dem Französischen: Florance Canette
Jérome Jeanmart, aus dem Englischen: Lydia Jeschke