Donaueschinger Musiktage 2002 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2002: "La ligne - la prim'ombra - la perte"

Stand
Autor/in
Franck Christoph Yeznikian, Übersetzung aus dem Französischen: Thomas Hummel

Das Werk "La ligne -la prim'ombra – la perte" basiert im Wesentlichen auf einem der jüngsten Gedichte von Anne-Marie Albiach. Für mich hat ihre Poesie ein Gewicht sowie eine besondere musikalische Dichte, die gewollt sind und die durch Überdetermination der Stimmen direkt und indirekt ausgedrückt werden. Was mich auch an ihrer Poesie fasziniert, ist diese Art von ununterbrochenem Kontrapunkt der Polyphonien von Richtung und Raum, dessen Bildgewalt nicht ohne tiefe Sinnlichkeit ist. Die Art zu schreiben, der Textkorpus selbst, spielen hier mit. Eine barocke Dynamik durchdringt diese Poesie und entfaltet sich in ihr spürbar. Ihre Ansprüchlichkeit lebt von der Entfernung und gleichzeitig von der übergroßen Nähe, nach dem Prinzip von Zusammenfügen (im Original "la jointure" = Zusammenfügen als auch Fuge/der Übersetzer) und Trennen, das ihr ganzes Werk durchzieht. Unter dieser Voraussetzung, das muss man wissen (Albiach), muss man erst einmal eingestehen, dass man nicht alles versteht. Diese Form der geistigen"Erfassung" bestimmt, was bleibt und was verschwindet.

Das Gedächtnis wird seitdem zum Herrscher über die tastbare Materie. Ein "monströses" Gedächtnis, wie sie es in einer ihrer mythisch gewordenen Gedichte nennt, ein Bühnenraum, der nicht die Vorlieben des Unterbewussten vergisst, setzt sich in der Alchimie der Entwicklungen fest. Daher reagieren die Figuren heuchlerisch sich selbst gegenüber; die Kursivbuchstaben, die Leerzeichen, die Interpunktion.... werden zu Bedeutungsträgern mal des Sieges, mal der Niederlage... Diese Poesie könnte sich so zu einem riesigen Theater entwickeln.

Was mein Verhältnis zur Dichtung im Allgemeinen betrifft, so setze ich nicht ein Gedicht in Musik, entgegengesetzt zur pratica eines Komponisten, der seine Musik im Dienste einer Prosodie ausdrückt. Wichtiger als die pflichtgemäße Einhaltung des Bezuges zum Gedicht scheint mir, mich als "Übersetzer" zu verstehen, der bei der Auflösung der verschiedenen Deutungsmöglichkeiten behilflich sein kann. Diese nachdrückliche Haltung oder Haltungslosigkeit von – wenn man so will – Usurpation steht ebenso sehr im Widerspruch zur Schamhaftigkeit, die man gegenüber dem Gedicht bewahren sollte, wie auch zu einer subversiven und doch das Ganze heilenden Form, in dem Bewusstsein, hier um der authentischen Annäherung willen tätig zu sein.

Dies alles veranlasste mich, einige Zeilen gegen Übersetzungen auszutauschen, um sie in den Geist dreier anderer Sprachen zu verwandeln: Das Englische (durch den amerikanischen Dichter Keith Waldrop), das Deutsche wie auch das Italienische. Insgesamt habe ich, oberflächlich gesehen, nur einige wenige Zeilen dieses langen Gedichtes zurückbehalten, der Rest erscheint im verzahnten Gewebe der in das Orchester übertragenen Figurenmasse.

Kehren wir zurück. Seit neun Jahren verlockt es mich, eine Musik mit den Gedichten von Albiach zu schreiben. Ich vermeide noch heute jeglichen Gedanken daran, bis zu welcher Eindringtiefe beziehungsweise bis zu welcher Stärke des enigmatischen Widerhalls sich die Übertragung einer solchen beschwörenden Stärke des Gedichts auswirkt, ein Gedicht, das nicht ablässt, das Zutagetreten aller möglichen musikalischen Stränge zu beschleunigen. Es gibt sicherlich die Musik in der Sprache, deren Gesang und deren Rhythmus, diese Hervorhebung des Verbs, aber auch und besonders die Dimension der Erinnerung, die sich zum beherrschenden Moment entwickelt.

Das alles soll nicht die Muse der Musiker vergessen machen: Mnemosyne, Wächterin der Erinnerung, jedoch, von wo aus sieht man ihr in ihre Mundwinkel, wo überkommt es einen, das Vorzeichen des Erscheinens eines bereits verschuldeten Vergessens; Bewacherin vielleicht, aber doch zum Vorteil einer Regung, die mit dem Nachleben der Gedächtnisspur verbunden ist! In der Folge der Hinterfragungen des Wieso und Warums, die sich auf die Wirkung dieser Poesie auf meine Musik beziehen, erscheint mir mit einiger Evidenz, dass dieses tiefgründig funkelnde Verhältnis einer Art Raumresonanz entsprechen müsste, die sich in der Psyche vollzieht. Die Poesie von Anne-Marie Albiach bedeutet die Formulierung beziehungsweise Offenbarung einer Ebene, einer einzigartigen Landschaft, die man mit einem psychischen Abdruck vergleichen könnte.

Was die Form betrifft, so teilt sich das Werk in drei Szenen auf, die insgesamt siebzehn Sätze umfassen. Am Ende der zweiten Szene setzt der Chor ein. Dieses Moment war ursprünglich einem Kinderchor zugedacht, das Material und sein Bezug sind der Motette "O cruaulté logée en grand beaulté" von Pierre de Manchicourt (1510-1564) entnommen.

Das Textmaterial stammt aus drei Fragmenten: Nicolas de Cues – auf lateinisch, Sigmund Freud – auf deutsch, und Jean-Luc Nancy – hier des Kontexts wegen von Pierre Monat auf lateinisch übersetzt. Diese drei Zitate finden sich wie in einem Schaufenster übereinander geschichtet wieder, eine Praxis, die den aus dem Mittelalter entstammenden Motetten entlehnt ist. Mir erschien, dass diese Autoren kontrapunktisch einen fruchtbaren Dialog mit dem Ausdruck des Gedichts unterhalten können, einem Gedicht, das jedoch seinem eigenständigen Erzählfluss folgt. In jedem Fall vertreten diese Fragmente ein Denken, das sich implizit und reflektiv genau in der Welt von "La ligne la perte" wiederfindet. Dementsprechend endet die Form der Zwiesprache nicht an dieser Stelle.

Der initielle Leerabstand im Titel des Gedichts wurde mit einem zusätzlichen Bezug belegt, dem zu dem Werk von Agnès Minazzoli, La première ombre, dessen Titel wiederum aus Canto XXVIII aus dem Purgatorio von Dante entnommen ist. Dieses Buch reflektiert die verschiedenen Bedeutungen, mit denen der Begriff des Spiegels in der Geschichte der Darstellung belegt ist; eine weit reichende Fragestellung, in der das Gedicht auch als gespiegelter Reflex oder als Ergebnis einer grenzüberschreitenden Verformung dargestellt werden könnte! Das Werk wäre sozusagen der Schatten, relativ gesehen eine Spiegelung mit Hilfe eines speculum (Spiegel) verschiedenartiger Facetten oder Details, die sich netzartig darin verbergen.

Ich habe versucht, auf ihre Poesie eine Antwort zu geben mit etwas, was mir in meinem kompositorischen Schaffen immer wichtiger erscheint, nämlich mit Zerbrechlichkeit und Transparenz, zusammengefügt mit sanfter Gewalt durch unterschiedliche Behandlungsweisen. Deshalb werden einige Instrumentallinien bis an die Grenze zum Aufreißen des Klangs gebracht, zum Beispiel durch die Verwendung verschiedener Dämpfer.

Aus diesem Grund heraus ist das Material des Werkes selber der Stoff, aus dem es gearbeitet ist, derselbe, der es verunreinigt. Diese Entrücktheit, die einer anderen Form von Effektivität und know how entspricht, könnte als Knoten oder Linie aufgefasst werden, in der sich Werden und Vergehen die selbe Präsenz teilen, so wie die Existenz des Einen die Abwesenheit beziehungsweise die Verstärkung des Anderen wäre, und vice-versa. Die orchestrale Textur der Instrumente wird wie ein riesiger Stoff behandelt, in dem sich der Text mit den Prozessen der verschiedenen rhetorischen Schichten emailliert, was man heute das Wiederbeleben eines Rückgriffs auf das Madrigal nennen könnte. Diese Vorgehensweise bildet den Hintergrund für ein erzählerisches Prinzip, dessen Ergebnis ein dramatischer Kontrapunkt zum Gedicht ist. Durch die Verdichtungsarbeit bildet sie etwas, was man eine Webart nennen könnte, ein Spiel mit Hintergründigkeiten oder besser eine musikalische "Urdramaturgie" (im Original "tramaturgie", der Übersetzer).

Verwendete Texte

Cantus:

Délinéation du désir
Le simulacre ouvre la plaie
gravita
Verleugnung, Tiererzählungen
Die Wandung
where the child's alphabet
du verbe
une entaille
: objects
low tide groaning board
Un éclat dans la poitrine : elle ne prenait plus le hasard
la fodera nostri rigaurdi
a night of rumpus
fra la perdita
blueing the eye lids
L'enjeu devient obscur l'enigma si pone
gesti
laceramento
l'opacité
lungo le rive
un rituel
l'ombra lo schermo
l'usura
dans cette étendue à venir
humid sheets September evening
Sur le trajet des veines
Elle avait cherché à s'échapper
which lead out to sea
qu'ils réprouvent
Immergés dans une logique autre
Les traces premières
Blasphématoire la récidive
elle marchait
épelant une grammaire
la narration d'un érotisme
se précise inouïe

Anne-Marie Albiach*

Chor:

"Et hoc scio solum, quia scio me nescire,
quid video et numquam scire posse"

Und ich weiß nur was ich weiß, dass ich nicht weiß was ich sehe und dass ich es nie wissen kann.
Nicolas de Cues (Übersetzung von A. Minnazzoli)**

"Psyche ist ausgedehnt : weiß nichts davon"
Sigmund Freud***

"An poterimus quæstum percipere hac ratione amissa,
vel sciemus quæ significentur hac rationis amissione."

Wenn wir wissen werden, was dieser Verlust des Sinns bedeutet, besitzen wir den Sinn dieses Verlustes.
Jean-Luc Nancy**** (Übersetzung von Pierre Monat)

Quellen:

*in "je te continue ma lecture: mélanges pour Claude Royet-Journoud", P.O.L, 1999.
**Agnès Minazzoli, La première ombre: réflexion sur le miroir et la pensée, Les éditions de Minuit, 1990.
*** in Sigmund Freud, Resultate, Ideen, Probleme, II, P.U.F, 1992.
**** in Jean-Luc Nancy, Corpus, Éditions

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Franck Christoph Yeznikian, Übersetzung aus dem Französischen: Thomas Hummel