Sechs Aspekte
I Musikraum
"Was ist, dient zum Besitz.
Was nicht ist, dient zum Werk."
Laotse
Zwischen Tönen, Geräuschen, Klängen, Strukturen, Instrumenten: der innere Raum einer Musik.
Vier Elemente (Ton, Linie, Akkord, Cluster) in unterschiedlichsten Gestaltungen, ein Verfahren (Permutation), vierfach differenziert in den vier Klanggruppen des Orchesters, lenken in ihrer beziehungsvollen Unabhängigkeit die Aufmerksamkeit auf das, was zwischen ihnen ist: Raum.
II Tonraum
"Hör mal! Nebenan gibts ein Wahnsinnsuniversum: Nichts wie hin!"
E.E. Cummings
Räume explodieren, implodieren; werden gedehnt, gekrümmt, verzerrt; können sich reduzieren zur Fläche: Tonraum – ein Zwölftonakkord, für diese Musik gewissermaßen das Urphänomen allen Klanggeschehens.
III Klangraum
"Weil das Hören die primäre und beherrschende Form der Wahrnehmung des Unsichtbaren ist, erscheint für die Wahrnehmung der Raum des Unsichtbaren als Klangraum. [...] Unser Gehör nimmt Töne unmittelbar als Lebensäußerungen wahr, weil sich die unsichtbare Wirklichkeit, die wir Leben nennen, in ihnen manifestiert."
Georg Picht
Nicht die äußere Verräumlichung ist das Wesentliche: Aus dem Zwölftonraum werden Nischen gebrochen: Einzeltöne, Dur-, Moll-, Septklänge, allintervallige Strukturakkorde, pentatonische und ganztönige Skalen, Modi, Cluster... – Sie werden von extrem heterogenen Instrumentengruppierungen im Raum wiederholt, permutiert, variiert, paraphrasiert. So ergeben sich, ganz wie von selbst, auch verschiedenste stilistische Anklänge. – Der freie Proportionskanon, den das Ensemble vom Orchester übernimmt, bleibt stets gegenwärtig, weil die Elemente immerfort wiederkehren. Aber der Kanon ist nur Struktur, die dem, was ganz anders ist, Raum gibt: Klang.
IV Erinnerungsräume
"Sind die Zustände der Ordnung und Unordnung Sachverhalte, die entdeckt worden sind, oder sind es Sachverhalte, die erfunden werden? Da ich zu der Antwort neige, dass sie erfunden werden..."
Heinz von Foerster
Die Wiederkehr der immer gleichen Elemente und Varianten, allerdings in immer neuen Konstellationen, öffnet den Raum der Erinnerung. Bündelungen verschiedenster Gruppierungen von Instrumenten des Orchesters und des Ensembles erzeugen einen besonderen Klang: Die räumliche Distanz lässt die klaren Konturen dieser Musik ins Mikrotonale und metrisch Unpräzise verschwimmen: Heterophonie. (In der Partitur findet sich geradezu der Hinweis, dass die Ensembles im Raum nicht nur zum Orchester, sondern auch in sich bis zu drei Sekunden differieren können!) – Aber auch ganz subjektive Erinnerungen bis hin zur Technodisco können aufblühen...
Unerbittlich trägt durch diese Räume der Erinnerung der metrische Beat. Der erste Teil entfaltet in Parzellen ein vielfältiges metrisches Spektrum. Der zweite zieht das eine Metrum durch und erinnert in einer sich rasant beschleunigenden Abstraktion die Erinnerungsräume.
V Kosmischer Raum
"Die kosmische Sichtweise – diejenige Sicht, die alles sieht, die diese Welt mal vom Standpunkt des Mondes, mal vom Standpunkt der Sonne, mal vom Standpunkt des Universums aus sieht."
Taisen Deshimaru-Roshi
Solche Worte mögen heute zum esoterischen Klischee verkommen sein. Hier aber treffen sie sehr konkret. Aus dem einen Klang hervorgehend überlagern sich ansonsten völlig unabhängig voneinander drei Räume: das Orchester mit 17 verschiedenen Metren (von 3 bis 156 Schlägen pro Minute), das Balkonensemble, die Permutationsvarianten erinnernd, die Solisten im Raum mit freien Klangelementen. Und während sich die ersten beiden aufgrund unterschiedlicher Beschleunigungsproportionen voneinander entfernen, bleibt der letztere konstant.
VI Virtueller Raum
"Dank des Umgangs mit den medialen Wirklichkeiten begreifen wir, dass die Wirklichkeit immer schon eine Konstruktion war. [...] Heute kann man eine medieninduzierte Aufweichung unseres Verständnisses von Wirklichkeit und eine Virtualisierung und Derealisierung des Wirklichen beobachten."
Wolfgang Welsch
Obwohl an Elektronik nur eine E-Gitarre einbezogen ist, intensiviert Jörg Herchet mit dieser Orchestermusik die Gestaltung des digital-virtuellen Raum-Zeit-Modells, mit dem er seit einiger Zeit arbeitet. der virtuelle raum ist ein akausaler raum; in ihm gibt es kein kontinuum der fortbewegung, sondern von jedem punkt dieses raumes kann zu fast unendlich vielen anderen punkten gesprungen werden. ja, es gibt sogar die möglichkeit, an mehreren punkten zugleich zu sein: netzraum.
(Jörg Herchet, in: die töne haben mich geblendet, Festschrift Jörg Herchet, hg. von Christoph Sramek.)
Das Stück ist dem Verfasser dieses Kommentars gewidmet.
- Festivaljahrgänge
- Donaueschinger Musiktage 2004
- Themen in diesem Beitrag
- Jörg Herchet, sich verräumlichend. Komposition 4 orchester (VIII)