Donaueschinger Musiktage 2005 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2005: "Ossia"

Stand
Autor/in
Marco Stroppa, aus dem Englischen: Lydia Jeschke

Marco Stroppa

Sieben Strophen für einen literarischen Schmarotzer

Der Titel

Der Titel dieses Werkes hat nichts mit dem berühmten musikalischen Begriff für die Vereinfachung einer schwierigen Passage zu tun, vielmehr handelt es sich um den Spitznamen des russischen Dichters und Literatur-Nobelpreisträgers Iossif Alexandrowitch Brodskij. Der Untertitel bezieht sich auf einen sehr kritischen Artikel über ihn, der am 28. November 1963 (unter der Überschrift "Ein literarischer Schmarotzer") in der Zeitung "Vecherny Leningrad" erschien. Wenige Monate später wurde Brodskij festgenommen, des sozialen Parasitentums angeklagt und für fünf Jahre ins Exil geschickt. Frida Vigdorova, eine Journalistin, transkribierte diesen surrealen Prozess. Eine französische Version, herausgegeben von Efim Etkind, erschien 1988.

Zwei Gedichte von Brodskij haben zudem die Komposition "Ossia" inspiriert: "Seven Strophes", ein intimes Porträt einer Frau von einem Mann, der praktisch blind ist, und "Monument", ein frühes Gedicht, das ein "Denkmal für eine Lüge" preist – ein Gedicht, das sich auf so viele gegenwärtige Regierungen und Industrie-Lobbys anwenden ließe!

Jeder Abschnitt des Stückes außer dem letzten wird durch einen aus den "Seven Strophes" abgeleiteten Ausdruck charakterisiert.

Verräumlichte Kammermusik

Ich habe erst vor ein paar Jahren angefangen, Kammermusik zu schreiben ("Hommage à Gy. K." für Klarinette, Viola und Klavier 2003, "Opus nainileven" für Holzbläserquintett 2004). Bis dahin verlangte meine Kompositionsmethode mehrere Instrumente, um einen einzelnen Klang zu bilden, und sogar noch mehr für längere Strukturen. Das führte mich natürlich entweder zur Ensemble- oder zur Orchestermusik oder zu einer Kombination von akustischen Instrumenten mit Elektronik.

Um mich der Kammermusik zu nähern, musste ich eine andere Herangehensweise wählen, nicht nur im Hinblick auf die Komposition und das musikalische Material, sondern auch auf den Raum, verstanden als die Platzierung der Spieler auf der Bühne. Im Unterschied etwa zu Luigi Nono, bei dem die Spieler sich häufig langsam auf der Bühne bewegen, erfordert diese verräumlichte Kammermusik, dass ein Stück in kürzere Abschnitte aufgeteilt ist und dass die Spieler in jedem Abschnitt einen anderen Platz auf der Bühne einnehmen, ohne sich dann noch zu bewegen. Die so definierten räumlichen Konfigurationen bestimmen die Art des Materials, das verwendet werden kann; es gibt eine direkte Verbindung zwischen der Struktur der Komposition und der Platzierung der Interpreten im Raum. Zum Beispiel beginnt das Stück mit einem Duo für Violine und Cello, in dem das Cello eine führende Rolle einnimmt und hauptsächlich hohe natürliche Obertöne auf den tiefen Saiten spielt, eine ziemlich ungewöhnliche Klangfarbe, während die Violine sich mit tiefen natürlichen und künstlichen Obertönen in derselben Region einmischt. Der Begriff "hushed" (lautlos, still) beschwört den leisen, beinahe spröden Charakter der Musik. Um ihn zu unterstreichen, sind die Spieler hinter dem geöffneten Flügel platziert, teilweise vor dem Publikum verborgen. Ihr Klang ist nicht nur leiser, er scheint auch aus einer undeutlichen Sphäre zu kommen, von "dahinter". Jedes Werk für Kammermusik übernimmt eine spezielle räumliche Dramaturgie. Form, Struktur, musikalisches Material und Raum sind daher völlig ineinander verknäult.

Ossia

Aus einem technischen Blickwinkel ist Ossia in sieben Abschnitte (oder Strophen) aufgeteilt, die zu drei Sätzen gruppiert sind. Zwischen den Abschnitten hält die Musik nicht an, aber ein oder zwei Spieler gehen zu einer anderen Position, während der andere oder die anderen weiterspielen. Das Basismaterial besteht aus einer Folge von Akkorden, die ich einem Satz (Ahu Tongariki) eines Klavierzyklus (Miniature Estrose) entliehen habe, und wird entweder als harmonische oder als motivische, beinahe modale Struktur verwendet. Je nach der gerade aktiven räumlichen Konfiguration artikulieren einige rhythmische Muster diese Struktur, von polyrhythmischen Schemata ("Spins and whirls") zu irregulären, additiven Mustern ("Dim") oder schnell wechselnden Texturen ("on my left, on my right"). Die räumliche "Dramaturgie" beginnt mit einem versteckten Duo (Violine, Cello) und endet mit einem beinahe "normalen" Trio ("Monument"). Dazwischen artikulieren verschiedene Konfigurationen den Raum (folglich die Form) und folgen dabei einigen Strategien, die aus den rhythmischen Zwängen jedes Satzes abgeleitet sind.

Stand
Autor/in
Marco Stroppa, aus dem Englischen: Lydia Jeschke