Donaueschinger Musiktage 2006 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2006: "Les cases conjuguées"

Stand
Autor/in
Nicolaus Richter de Vroe

Pierre Cabanne:

1932 schrieben Sie ein Buch über das Schachspiel, das inzwischen eine Art Klassiker geworden ist. Es heißt Opposition und Schwesterfelder sind versöhnt (L' opposition et les cases conjuguées sont reconciliés), ein wunderbar surrealistischer Titel.

Marcel Duchamp:

Die "Opposition" ist ein Verfahren, mit dem man bestimmte Züge machen kann. Die "Schwesterfelder" stellen genau dieselbe Methode dar, sind aber eine neuere Erfindung und erhielten deshalb auch einen neuen Namen. Immer noch aber streiten sich die Verteidiger des alten Systems mit denen des neueren. Ich habe dann ein Verfahren gefunden, das die Antithese beseitigte und habe deshalb den Begriff "versöhnt" benutzt. Eigentlich aber interessiert sich kein Schachspieler für diese Endspiel-Fälle, und das war das Komische an der Sache. Nur drei oder vier Leute auf der ganzen Welt haben diese Untersuchungen angestellt wie Halberstadt und ich, die wir gemeinsam dieses Buch verfassten. Schachmeister z.B. lesen unser Buch überhaupt nicht, weil das darin behandelte Problem höchstens einmal im Leben auftaucht. Es handelt sich um Probleme möglicher Endspiele, die so selten auftreten, dass sie beinahe utopisch zu nennen sind.

Pierre Cabanne:

Sie blieben also stets dem rein Begrifflichen, dem Konzeptionellen verhaftet.

Marcel Duchamp:

Aber ja. Auch hier waren meine Lösungen weder aktuell noch praktisch verwendbar.

(aus: Pierre Cabanne, Gespräche mit Marcel Duchamp, Köln: Verlag Galerie der Spiegel 1972)

Schwesterfelder – damit ließ sich etwas anfangen. Das Wort zeichnete gleichsam den Raum vor, in welchem sich verschiedenste kompositorische Überlegungen, frühere wie auch aktuellere Fragen des Klangmaterials und der Form, konkretisieren ließen. Mein Interesse an feinen graduellen Abstufungen bzw. Verwandtschaften von Klangeigenschaften der Bausteine und Texturen fand im poetischen (Titel-)Bild eine geeignete Projektionsfläche. Schach-Konstellationen oder gar regelhafte Schrittfolgen wie auch immer kompositorisch abzubilden -solcherlei Versuchung konnte leicht widerstanden werden. Im Gegenteil: Es eröffnete sich die (für mich nicht immer selbstverständliche) Freiheit, mit und in "Schwesterfelder" den kompositorischen Allerweltsprinzipien Setzen-Dagegensetzen-Wiederholen-Dazusetzen-Absetzen-Aussetzen etc. mit einer gewissen Absichtslosigkeit und Gelassenheit genügen zu können.

Auch die Hierarchisierung bzw. verschiedene Gewichtung der Klangparameter und musikalischen Schichten wurde wieder einmal "zum Thema" – etwa, wenn das rhythmische Element mit seinen Rastern und Akzenten besondere Aufmerksamkeit, andere Elemente hingegen eine Art heilsame Vernachlässigung erfuhren.

Das Streichquartett verkörpert zunächst gegenüber dem Orchester etwas Abgesetztes, Nichtverwandtes. Die Tendenz zur Anverwandlung führt hin bis zu einer ausgedehnten, quasi kollektiv-verschwisterten Litanei aus sacht driftenden Wolken-Versen, deren Text ich gern kennen würde – gäbe es denn einen.

Stand
Autor/in
Nicolaus Richter de Vroe