Donaueschinger Musiktage 1998 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 1998: "Streichquartett Nr. 3"

Stand
Autor/in
James Dillon
Übersetzung
Volker Brzezinski (aus dem Englischen)

Wie sprechen wir über ein musikalisches Werk? Wenn man beispielsweise über die Form spricht, muß man dann auch über die Struktur des Gedächtnisses sprechen, die Struktur der Erinnerung und der Vorstellung? Ausgehend von der ursprünglichen Sinneswahrnehmung konstruieren wir uns auf der Basis unseres Wissens und unserer Erfahrungen im Verlauf der weiteren Verarbeitung ein Abbild. In dem Raum, in dem sich alle diese Informationen und Erfahrungen kreuzen, beginnt sich die Idee einer Form zu entwickeln. In der Musik mag man die Beziehung zwischen Form und dem, was es bedeuten könnte, als nichts anderes sehen als eine Gelegenheit einen Bedeutungsgehalt herauszulösen, den die Form selbst hervorbringt. Sicherlich, wenn man die materiellen Formelemente entfernt, dann wird gleichzeitig die Bedeutung verschleiert. Dies ist vergleichbar mit einer Reihe von leuchtenden Bildern, deren Verbindungen in der Dunkelheit verloren gegangen sind – selbst das Wort Form ist zurückverfolgbar zur seiner Wurzel Leuchten. Virtuosität ist ein Ausdruck, der fast nur noch mit einer Art Selbstgefälligkeit verbunden wird, welche die Funktion des Rituals auf bloße Schaulust reduziert. Früher, und in bestimmten Kulturen, war die Bedeutung von Virtuosität nicht einfach nur verbunden mit der Ausführung, sondern war – wie die Durchführung – unlösbar an das Subjekt gebunden, so wie das Ritual an den Austausch. Alle Aktionen beinhalten Verantwortung und Konsequenz und die Erfordernis von Erfahrungen bezüglich der großen Lebenszyklen werden als die einzig wahren Subjekte des Künstlers gesehen. Zeit ist natürlich die besondere Begabung des Komponisten, die einzige Sache, die sowohl zwischen den Zyklen der Natur fließt, als sie auch voneinander trennt. Musikalische Zeit ist diese bestimmte Form von Vergänglichkeit, welche sich der konzeptionellen Bestimmung entzieht, selbstverzehrend wie das Symbol der Uroboros; es ist die Zeit, die nicht mit der Uhr gemessen werden kann.

Wenn eine Art konzeptionelle Ordnung auf ein Medium trifft, welches sind dann die aufdämmernden Erscheinungen dieses Zusammentreffens? Für das Quartett war solch eine Frage der Ausgangspunkt. Bezüglich der Art des Mediums (in diesem Fall das Streichquartett) schwankt die Physis des Repertoires um die doppelte Gravitas der Klanghomogenität und einem Potential weitschweifender Verworrenheit. Das anfängliche Spiel mit den einfachen numerologischen Eigenschaften der Zahl Vier wurde in zahlreiche Richtungen erweitert. Von diesen konzentrierte ich mich auf die beiden Symbole Kreuz und Kreuzung – das Kreuzen von Grenzen oder das Kreuzen von Material sowohl im Sinne der Entstehung, als auch als Chiasmus. Außerhalb der Zeit betrachte ich die vier Bewegungen des Quartetts wie ein Auseinanderstreben hin zu den vier Endpunkten des Kreuzes; diese Metapher erzeugt für mich zwei sich kreuzende Achsen, welche thematisch die Bewegungen I mit IV und II mit III verbinden. Was dieses Bild bzw. diese Vorstellung erlaubt, ist eine bestimmte Art der Verzauberung – das Nachdenken über Form. Entlang der Achsen und innerhalb der Zeit dominieren zwei Arten von musikalischen Modellen das Werk: erstens, ein archetypisch tanzartiges Material, klar gebündelt mit periodischen und sich wiederholenden Strukturen und zweitens, ein komplexeres, asymmetrisches und ausgesprochen widersinniges Material. Teil des Chiasmus ist die Herausarbeitung einer Kreuzbeziehung zwischen zwei Arten von Materialien. Zwei Arten des Kontrastierens durch Parallelitäten sind z.B. die graduelle Umwandlung des Einen in das Andere oder das Beeinflussen des Einen durch das Andere. Alle Themen, die aus diesen Modellen gewonnen wurden, sind im ersten Satz in ihrer elementaren Form präsent, und sind, in den anderen drei Sätzen, entweder einzeln entwickelt oder miteinander verwoben. Das Schreiten bzw. Kreuzen von Satz zu Satz führt zu bestimmten Ablagerungen, in denen Spuren des Vorangegangenen in den Nächsten getragen werden. Durch die Trennung des Werkes in vier Sätze entsteht auch ein zwingendes Einverständnis mit dem Raum, der diese teilt – Raum als eine Neuordnung des Stoffes.

Das Werk wurde im Auftrag der Donaueschinger Musiktage 1998 für das Arditti Streichquartett zwischen Januar und Mai 1998 komponiert.

Stand
Autor/in
James Dillon
Übersetzung
Volker Brzezinski (aus dem Englischen)