(Norwegische Archive)
Lasst mich von Norwegen erzählen:
Norwegen ist das Land, in dem ich geboren wurde und aufgewachsen bin. Es leben nicht viele Menschen hier (gerade etwas mehr als vier Millionen), und große Teile des Landes sind praktisch unbewohnt. Die norwegische Identität ist in der Volkskultur des 19. Jahrhunderts fest verankert; es war in dieser Zeit, als Norwegen sich nach der Lösung von Dänemark zu einer unabhängigen Nation entwickelte. Historiker behaupten, dass die Geografie und Natur Norwegens die Norweger zu dem machte, was sie sind – viel mehr als Paläste, Theater, Kathedralen oder Kunst. Das ist es, was den "wahren Norweger" ausmacht: traditionelle Kostüme, Volksmusik und Natur. So stellen wir es uns gern vor.
"Norwegianismus" in Musik, repräsentiert durch Zitate und Bearbeitungen norwegischer Volkslieder, war lange Zeit synonym mit einem bestimmten Stil und einem starken Gefühl von Identität. Das Stück "Norske Arkiver" ist eine Betrachtung der norwegischen Musikgeschichte, repräsentiert durch sechs Komponisten: Edvard Grieg, Gerhard Schjelderup, Edvard Sylou-Creutz, Signe Lund, Geirr Tveitt und Harald Sæverud. Sie haben sich alle, auf je verschiedene Weise, mit "Norwegianismus" befasst, und sie lassen sich alle, auf unterschiedlichem Weg, mit "Germanismus" in Verbindung bringen – zwei gemeinsame Nenner, die als repräsentativ für große Teile norwegischer Kunstmusik bis 1940 gelten können.
Während der deutschen Besetzung Norwegens zwischen 1940 und 1945 gab es überraschender Weise viele Komponisten, die sich auf die deutsche Seite schlugen. Ein offensichtlicher Grund dafür war ihre Affinität zur deutschen Kultur – diese wiederum unter anderem eine Folge dessen, dass norwegische Komponisten überwiegend nach Leipzig oder Berlin zum Studium gingen, da es in Norwegen keine Möglichkeit eines Kompositionsstudiums gab. Wie man sich vorstellen kann, verhinderte dies den Einfluss deutscher Musik auf die Nachkriegskomponisten und folgende Generationen. Die norwegische Tradition, die so eng mit der deutschen verbunden war, tat einen großen Schritt beiseite und schritt unerschrocken auf einem anderen Weg weiter.
Von einer post-seriellen, komplexen Schreibweise habe ich meine Arbeit in den letzten Jahren mehr und mehr in dokumentarisches Material hinein verlagert. Es ist mir wichtig, dass die Musik irgendwie unbehandelt klingt, so dass das gesammelte Material sich selbst in seiner reduziertesten Form präsentiert. Ich stelle mir die Form gern als Skizzenbuch vor. Die fünf Sätze dieses Werks sind verschiedene Archive von "gefundenen Objekten", die alle aus Werken von den oben erwähnten Komponisten stammen. Einige sind geradewegs harmonische Reduktionen, wie langsame, unvollendete Choräle, andere sind Archivaufnahmen aus dem norwegischen Rundfunk, zitierte Fragmente aus der norwegischen (und deutschen) Orchestertradition oder Synthesen norwegischer Volksmusik. Zusätzlich verwende ich Stimmungen zweier traditioneller norwegischer Volksinstrumente: Seljefløyte und Langeleik, eine hölzerne Flöte und ein Saiteninstrument.
Ski, wo ich während der 1980er und 90er Jahre aufgewachsen bin, ist ein Vorort von Oslo. Es gibt hier keine Berge und Fjorde (den wenig beeindruckenden Oslo Fjord ausgenommen); niemand spielt die Hardanger Fiedel, es gibt keine Blockhütten, und die Architektur ist eine Mischung aus kistenartigen, hölzernen Terrassenhäusern und Märchenvillas. Ein klein bisschen einer osteuropäischen Vorstadt, und ein kleines bisschen von Disneyland – wie es zu unserer globalisierten Ära passt. Daher stehe ich der norwegischen Volkskultur etwas ambivalent gegenüber – nicht unähnlich meinen verstorbenen Kollegen, die ihre nationalromantischen Hauptwerke überwiegend in anderen europäischen Städten geschrieben haben und für die Norwegen nicht mehr als vage Erinnerungen und Heimweh bedeutete. Da ich ein norwegischer Komponist bin, ist diese pseudo-dokumentarische Betrachtung der norwegischen Musikgeschichte ebenso sehr eine Betrachtung meiner selbst. "Norske Arkiver" handelt von den komplexen Themen kollektiver und individueller Identität und Geschichte, von Gedächtnis und Erinnerungen.
- Festivaljahrgänge
- Donaueschinger Musiktage 2005
- Themen in diesem Beitrag
- Lars Petter Hagen, Norske arkiver für Kammerorchester und Elektronik
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