Werke des Jahres 2004

Poesie aus der Spannung von Stille und Schrei

Stand

Cecil Taylor

Der amerikanische Pianist Cecil Taylor erstmals in Donaueschingen

Blickt man auf die Jazz-Avantgarde der letzten fünfzig Jahre zurück, erscheint Cecil Taylor als eine Zentralgestalt, als eine Leitfigur und zugleich als ein Solitär. Er hat mit vielen der gleichfalls innovative Richtungen einschlagenden Musiker zusammengearbeitet und Generationen nachwachsender Improvisatoren beeinflusst. Dennoch gibt es keine Taylor-Schule. Es gibt nur Cecil Taylor.

Sein Spiel bricht aus, es ähnelt einem Naturereignis. Es entfaltet sich wellengleich in klangrhythmischen Verdichtungen und Entflechtungen von höchster Intensität. Und obwohl die Zeiten, in denen Taylor mit seiner Musik schockierend wirkte, vorbei sind, weiß er noch immer zu provozieren. Ganz in dem Sinne, in dem er selbst das heftige Auftreten eines Gefühls als eine revolutionäre Erfahrung beschrieben hat. Er erweist sich als Konstruktivist und zugleich auch als ein Improvisator mit der Fähigkeit zur Hingabe bis zur Ekstase. Taylor weiß, dass die Botschaften nicht in den Akkordverbindungen, sondern im Labyrinth der Leidenschaften zu entdecken sind.

Den jahrzehntelangen Spielerfahrungen, den Instinkten und Intentionen wie auch dem in die Logik von Strukturen eingetauchten Bewusstsein folgend, entwickelt er in sich schlüssige Abläufe und Großformen. Cecil Taylor bewegt sich in einem kulturellen Kontinuum, inner-halb dessen der Jazz eine wichtige, aber nicht die einzige Rolle spielt. Sein Verständnis von freier Tonalität entspringt den Ur- und Vorformen des Jazz, nicht der Welt der Akademien, die er freilich auch besucht hat und die ihn heute einladen oder mit Auszeichnungen überhäufen.

Von Anfang an entwickelte Cecil Taylor eine Langzeitenergie, wissend, dass sich seine musikalische Sprache im Prozess des Spiels entwickelt. Die physische Komponente, der Aspekt der Praxis, ist dabei ebenso wichtig wie seine Auffassung von Improvisation, die im Sinne von "instant composing" aus der Erfahrung heraus im Hier und Jetzt Verlaufsformen mit kompositorischem Anspruch entstehen lässt.

Wenn Cecil Taylor betont, dass er seine Musik nicht aus Theoremen, sondern aus dem, was er sieht und hört, entwickelt hat, so weist er uns den Weg, wie sie zu begreifen ist. Unterschiedliche Einflüsse assimilierend, hat Taylor eine eigene Ästhetik entfaltet. Amerikanisches, und das heißt in seinem Falle auch: die Kultur seiner afroamerikanischen und indianischen Vorfahren, sowie Europäisches fließen zusammen.

Aufgewachsen in der schwarzen bürgerlichen Mittelschicht, ist Taylor früh mit klassischer europäischer Musik in Berührung gekommen. Zugleich haben ihn die Höreindrücke des Jazz geprägt, so dass er sich in einer Linie von Pianisten sieht, die von Art Tatum über Horace Silver und Thelonious Monk bis in die Gegenwart führt. Während seines Musikstudiums befasste er sich intensiv mit den Klangwelten von Komponisten wie Béla Bartók oder Igor Strawinsky. Von Bartók, sagte er, habe ich gelernt, was man mit folkloristischem Material anfangen kann. Von Duke Ellington schließlich lernte er, wie man die Erfahrungen europäischer Komponisten und solche der afroamerikanischen Musik miteinander verknüpfen und auf diese Weise neue Energien schöpfen kann.

Der Aufbruch in die Bereiche des freien Spiels, die Abkehr von den zur Konvention erstarrten Mustern des Jazz entsprang nicht einem Kalkül, sondern dem, was er um sich und vor allem auch in sich gehört hatte. Cecil Taylor orientierte sich früh am musikalisch-moralischen Impetus des Pianisten Thelonious Monk: Ich sage: Spiele auf deine Weise. Spiel nicht, was die Leute wollen, sondern das, was du willst, und lass dann die Leute draufkommen, was du machst - auch, wenn es fünfzehn, zwanzig Jahre dauert!

Taylor hat einen für ihn kritischen Zeitpunkt im Jahre 1961 beschrieben, der für ihn zu einer Entscheidungssituation wurde: Hatte ich eben noch die Perspektive gehabt, eine Figur von ähnlicher Etabliertheit, wie, sagen wir, Oscar Peterson zu werden, so fand ich mich nun plötzlich als Tellerwäscher wieder. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass gerade zu dieser Zeit im Down Beat ein Artikel über unsere Musik herauskam, und kurz nachdem er erschienen war, fing ich an, Geschirr zu spülen.

Aber inzwischen ist mir schon klar, warum ich als Tellerwäscher gearbeitet hatte. Mit der Entscheidung, sich jeder Versuchung zum Kommerziellen zu widersetzen und sich mit Ausdauer der Ausformung der eigenen Klangsprache zu widmen, war Taylor einen Weg gegangen, der ihn zu sich selbst führte.

Was an Taylors Spiel zunächst fasziniert, ist jenes ungeheure Potential an Energie, das allerdings die ihr innewohnende körperliche Komponente transzendiert und im Laufe der Jahre zu immer sublimeren Ausformungen führte. Taylor hat die Power-Play-Ästhetik des Free Jazz vorweggenommen und vorangetrieben. Aber er wusste auch zu warnen: Die physi-sche Kraft, die bei der Erschaffung der schwarzen Musik beteiligt ist - wenn die falsch verstanden wird, ist das Resultat Geschrei.

Es gibt sie, die Schreie in der Musik von Cecil Taylor, aber seine Musik entwickelt sich aus der Spannung von Stille und Schrei, seit Jahren mehr und mehr auch aus der von Sanftheit und Vehemenz. Taylor, der mitunter in seinen Solokonzerten eigene, assoziativ fließende Gedichtzeilen rezitiert, bekennt: Mehr als alles andere habe ich immer versucht, ein Poet zu sein. Und das bezieht sich auf seine Musik.

Poesie und Tanz spielen eine wichtige Rolle im Schaffen des amerikanischen Pianisten. Er hat Musik für berühmte Choreografen geschaffen, immer wieder mit Tänzerinnen und Tänzern zusammengearbeitet und schon zu Beginn seiner Laufbahn die Proben von Ballettensembles begleitet. Ich versuchte, so Taylor, auf dem Klavier die Sprünge der Tänzer nachzuahmen. Und noch heute begreift er Rhythmus im Sinne von Tanz. Auf andere Weise holt er die körperliche Dimension in seine Musik, weit entfernt vom Swing des Mainstream-Jazz, aber auf dessen Ursprünge zurückgreifend. Und wenn Taylor gelegentlich um das Klavier tänzelt, so ist dies alles andere als eine Performance-Einlage, sondern die Rückbesinnung auf das Ritual.

Seine Art des Spiels beschreibt er als magische Erhebung in den Zustand der Trance, als die erhöhte Wahrnehmung des inneren Selbst. Da fließen Emotion und Intellekt zusammen, da entsteht eine Aura, die die Zuhörenden mit auf diese Reise zu nehmen vermag. Taylor schlägt einen Bogen von der Archaik zur Avantgarde, von elementarer menschlicher Expressivität zu einer Musik von feinstem Kunstsinn.

Als unverzichtbar für sein Klavierspiel erweisen sich Perkussivität und Gesanglichkeit. Das Klavier ist für ihn ein Instrument mit 88 gestimmten Trommeln. Zugleich fasziniert ihn der vokale Klang des Instruments. Er wolle, sagt Taylor, das Klavier singen lassen. Gleiches trifft auch für die Gruppen zu, mit denen er arbeitet. Das gehört neben der orchestralen Konzeption des Pianos zu den Dingen, die er von Ellington gelernt hat: der gemeinsame Gesang eines Ensembles, verstanden als Metapher für den Zusammenschluss von Individualisten mit einem unverwechselbaren Sound. Die Freiheit im Kollektiv erwächst bei Taylor aus der musikalischen Konzeption.

"Als ich mit Taylor spielte", so der Saxophonist Archie Shepp, "befreite ich mich von der Fixierung auf Akkorde". Gleiches gilt, was die Souveränität im Umgang mit rhythmischen Strukturen anbelangt: Umspielen des Metrums, zeitliche Verschiebungen und Überlagerungen, Komplexität. Cecil Taylor hat diese Konzeption mit wechselnden Schlagzeugern vorangetrieben, mit Sunny Murray, Andrew Cyrille, Shannon Jackson und - seit Ende der 80er Jahre - auch mit Tony Oxley.

In England mit amerikanischem Jazz aufgewachsen, fand Tony Oxley - auch unter dem Eindruck der Klangdimensionen Neuer Musik - zu einer Art zeitgenössischen Improvisierens, die die zu Konventionen geronnene Jazzmusik hinter sich lässt. Bereits im Zusammenhang mit Erfahrungen, die er seit den 60er Jahren im Spiel mit Musikern wie Derek Bailey gesammelt hatte, sprach er von einer Befreiung vom Dogma des Beats.

Der Trompeter Bill Dixon arbeitete parallel zu Cecil Taylor und ab 1959 gemeinsam mit dem Pianisten an neuen musikalischen Konzepten. Als er 1964 im New Yorker Cellar Cafe die in den Annalen der Jazzhistorie verzeichnete October Revolution In Jazz organisiert hatte, war es für ihn selbstverständlich, Cecil Taylor einzuladen.

Auf der 1966 veröffentlichten Platte Conquistador waren Dixon und Taylor dann gemeinsam zu hören, in einer Gruppe, die John Litweiler als die vielleicht beste bezeichnet, die Taylor je haben sollte. Oxley und Dixon fanden - auch das ist alles andere als zufällig - durch ihre gemeinsame Bekanntschaft mit Cecil Taylor zueinander und arbeiten seit 1993 zusammen. Im Mai 2002 spielten sie zu dritt beim Festival im kanadischen Victoriaville: der seine Musik immer mehr auf dunkle Klänge und Stille reduzierende Bill Dixon, der klangrhythmischen Zusammenhalt herstellende Tony Oxley und der Meister an den 88 gestimmten Trommeln, Cecil Taylor.

Was sich verändert habe in seiner Musik, hat Taylor Ende der 80er Jahre mit den Worten umrissen: Er spiele jetzt ganz aus dem Gefühl der Freude heraus. Zeit, sagt er, kann man nicht besitzen; man kann nur innerhalb der Zeit existieren. Und auf die Frage, was das für seine Musik bedeute, antwortete er: joyful celebration.

Die Pianistin Irène Schweizer beschrieb einmal, wie die erste Live-Begegnung mit der Musik von Cecil Taylor auf sie gewirkt hatte: Ich war völlig fertig und habe ernsthaft erwogen, mit dem Klavierspielen aufzuhören. Diese Krise war vielleicht auch eine Chance. Mir blieb nichts anderes übrig, als meinen eigenen Weg zu suchen. Das war 1966 in Stuttgart. Jemanden zu animieren, einen eigenen Weg zu gehen, zählt zu den starken Impulsen, die von einem Werk, von einer Persönlichkeit ausgehen können. Cecil Taylors Spiel erweist sich - im Sinne eines "work in progress" - unvermindert als Herausforderung und als Ermutigung.

Bert Noglik

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SWR