Donaueschinger Musiktage 2000 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2000: "Tutti"

Stand
Autor/in
Jörg Mainka

Die Säulen der Mezquita

"Das Raumvolumen dieser Moschee ist nicht als Ganzes erfassbar, es ist bestimmt durch die große Anzahl überlanger Arkaden, die durch die doppelten Bogenstellungen optisch mehr oder weniger voneinander getrennt sind. Man erlebt immer nur ein Schiff auf einmal als homogenen Raum, dessen Anfang und Ende sich jedoch in der Ferne verwischen und dessen seitliche Begrenzungen durchlässig sind. Im vielschiffigen Säulensaal von Córdoba ist der Raumeindruck der spätantik-frühchristlichen Basilika durch die Vervielfältigung und Verlängerung der Seitenschiffe völlig aufgehoben. Die Auflösung des Raumvolumens ist charakteristisch für Córdoba und hat keine byzantinischen Quellen. Sie entspricht der Verwischung der architektonischen Funktionen in der Art, daß die tragenden Elemente nach oben hin wuchtiger, dass Träger zu Dekor werden und Dekor zum tragenden Element wird. Die bauliche Organisation einer immens großen Anlage in kleine, deutlich voneinander getrennte Teile, die gegenseitige Durchdringung von Funktion und Dekor und die optische Auflösung des geschlossenen Raumvolumens – dies alles sind unverwechselbare Besonderheiten der Hauptmoschee von Córdoba."¹

¹(Barrucand l Bednorz, Maurische Architektur in Andalusien, Köln 1992)

Die Erfahrung dessen, was man gern leichtfertig und ohne diesen Begriff in seiner Vielschichtigkeit zu ergründen "Gesamteindruck" nennt, in der Mezquita de Córdoba: Die alte Moschee fasziniert und irritiert gleichzeitig durch die Vielzahl und minimale Unterschiedenheit der den Raum strukturierenden Säulen, die darüber hinaus eine Gewölbekonstruktion tragen, die perspektivische Erlebnisse bei der begehenden Erfahrung zum Ereignis werden lässt. Dieses Gewölbe besteht aus einer unendlichen Vielfalt von Doppelhalbbögen zweier verschiedener Krümmungsgrade, die aus abwechselnd weißen und roten Steinen gemauert sind. Aus dieser geringen Anzahl von Grundelementen entwickelt der Raum eine Wahrnehmungsdynamik, die zwischen überschaubarer Ordnung und unübersichtlicher Komplexität, zwischen Identität und Variante der Details in atemberaubendem Tempo zu wechseln vermag.
Damit nicht genug: die Geschichte hat dieser virtuosen Komposition maurischer Baukunst eine europäische Kathedrale ins Herz gepflanzt, die die Wirkungskalkulation der maurischen Baumeister radikal verletzt, dennoch und vielleicht gerade in diesem barbarischen Akt dem Gesamteindruck der Wahrnehmung etwas Überwältigendes verleiht, wenn man die Kathedrale unerwartet durch den Säulenwald erreicht.

Die maurische Säulenkonstruktion zerstreut die Wahrnehmung. Jede Perspektive ist verschieden, jede gleich wichtig. Die in die Moschee eingepflanzte christliche Kathedrale verkörpert das Gegenteil: zentriert die Architektur, hierarchisiert die Wahrnehmung. Hinzu kommt die Lichtgestaltung in der Moschee: Tageslicht, gefärbtes Tageslicht, Kunstlicht. Ungeplant, ungestaltet, unreflektiert. Diese drei Wahrnehmungsumgebungen erzeugen eine merkwürdige Melange der Sinnesreize.

Spannend sind die Umschlagspunkte der Wahrnehmung zwischen der Subsumtion des Details unter übergeordnete Kategorien einerseits und der Bevorzugung der Detailwahrnehmung auch im komplexen Kontext andererseits.
Das Interesse gilt den Umschlagspunkten, nicht nur in der Architektur.

Stand
Autor/in
Jörg Mainka