Die Offenbarung oder Johannes-Apokalypse (Apokalypse bedeutet: Entblößung, Enthüllung oder Offenbarung) wurde zwischen 90 und 100 nach Christus geschrieben. Eine Apokalypse prophezeit, was geschehen ist, was geschieht und was zukünftig geschehen wird. Als literarische Gattung entwickelte sich die Apokalypse u.a. bereits im Alten (Daniel, Elias, Moses und andere) und im Neuen Testament (apokryphe Schriften).
Die Johannes-Apokalypse am Ende des Neuen Testaments macht keine Ausnahme von der Regel. Auch sie beschreibt das Ende der Zeiten und endet mit der Vision eines neuen, himmlischen Jerusalems (dem Königreich Gottes), das für alle Zeit an die Stelle aller irdischen Königreiche tritt. Weil die Apokalypse vielfach mit Symbolen arbeitet, gibt es zahlreiche Interpretationen, darunter insbesondere die idealistische These, die den Text als den Kampf zwischen Gut und Böse versteht oder die futuristische, die in ihm die Beschreibung zukünftiger Ereignisse sieht, also eine Prophezeiung. Anders als man es nach der Überlieferung glauben könnte, hat die Ankunft des Königreichs des Tieres – Satan – nur den Sinn, die Ankunft des Königreichs Gottes auf Erden vorzubereiten.
Kaum ein Text der Heiligen Schrift wird so kontrovers diskutiert wie die Apokalypse. Sie entstand in einer Zeit, als Religion und Politik engstens miteinander verbunden waren und ist von Katastrophenvisionen und Beschreibungen von großer Grausamkeit durchzogen. Der Text wurde zunächst geschrieben, um die christliche Gemeinde in einer Zeit großer Verfolgung zu unterstützen und das Ende des Antichrist vorauszusagen – dieser Terminus beschreibt "einen Betrüger, eine Gruppe oder eine Organisation, die kurz vor dem Ende der Welt versucht, eine Religion durchzusetzen, die zu der von Jesus Christus in Opposition steht." Das erklärt, warum der Text heimlich zirkulierte und zuerst in einer symbolischen, sogar chiffrierten Sprache abgefasst war. Die Apokalypse evoziert nicht nur das Ende der Welt, sondern der gesamten Geschichte der Menschheit. Der Text ist auch zu verstehen als eine Prophezeiung gegen die Verfolger, Rom und das römische Reich und für die christliche Kirche, die dazu bestimmt ist, deren Stelle einzunehmen.
Die Frage nach der christlichen Apokalypse verweist auf unsere eigene Apokalypse (allerdings ganz ohne jede religiöse Konnotation), auf die unserer ganzen Gesellschaft, aber auch auf die privatere unseres eigenen Lebens. Welchen Schleier wollen wir lüften, welche dunklen Stunden erwarten uns und welches Reich ist es heute, das zerstört werden soll?
Introduction Aux Ténèbres besteht aus drei Gesängen, deren lateinischer Text aus den Offenbarungen der Johannes-Apokalypse stammt, ohne deren Chronologie zu beachten. Das Stück beginnt mit einem Prolog und endet mit einem Epilog. Prolog und Epilog werden in der ursprünglichen Bedeutung der Worte verstanden, das heißt, sie stehen vor dem Wort (Prologos) und nach dem Wort (Epilogos). In beiden Teilen erscheinen in der Elektronik Bruchstücke der Gesangspartie wie die Überreste einer auf immer verlorenen Sprache.
Erster Gesang – Offenbarung 8 – "…und es ward eine Stille in dem Himmel bei einer halben Stunde…"
Es sind die Posaunen der sieben Engel, die Sintflut, Feuer, Hagel, Blut und Tod auf Erden ankündigen. Der Text ist eine Vision von Horror und Gewalt, wird aber musikalisch konträr behandelt. Die Musik ist nur noch das Echo einer verschwundenen Welt.
Zweiter Gesang – Offenbarung 4 – "Steig herauf, ich will dir zeigen, was nach diesem geschehen wird."
Wenn ich die Chronologie des Textes nicht eingehalten habe, dann deshalb, weil ich die Beschreibung des Königreichs Gottes ins Zentrum des Stückes stellen wollte. Dieser zweite Gesang ist – viel mehr als die Beschreibung des Reichs des Satans – eine große, erschreckende Beschreibung des Königreichs der Himmel. Darin begegnet man "vier Gestalten, die waren außenherum und inwendig voller Augen" und einem lexikalischen Feld mit dem semantischen Merkmal "blendendes Licht". Die Musik fokussiert extrem hohe Töne; es ist der einzige lichtvolle Moment des gesamten Stück.
Dritter Gesang – Offenbarung 13 – "Und ich sah ein Tier aus dem Meer steigen, das hatte zehn Hörner und sieben Häupter und auf seinen Hörnern zehn Kronen und auf seinen Häuptern lästerliche Namen."
Der dritte Gesang ist eine Beschreibung der Herrschaft Satans auf der Erde. Sie ist von unglaublicher Erfindungskraft: Man begegnet darin einem Tier "gleich einem Panther, und seine Füße wie Bärenfüße und sein Rachen wie eines Löwen Rachen" oder einem Tier, das "hatte zwei Hörner gleichwie ein Lamm und redete wie ein Drache". Es ist die Herrschaft der Anbetung des Bösen, der Blasphemie und der Zahl des Teufels, 666.
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Die Besetzung besteht im Wesentlichen aus tiefen Instrumenten. Innerhalb der Besetzung kommt dem Kontrabass ein besonderer Stellenwert zu. Über seine Rolle als Solist hinaus hat er eine enigmatische Funktion, die man als eine seltsame Verdoppelung der Stimme charakterisieren könnte. Wo seine Rolle die eines konzertierenden Instruments ist, hebt er sich vom Rest des Ensembles durch ein besonders energisches und virtuoses Spiel ab, durch extreme Spieltechniken und präzise Spielweisen. In seiner anderen Rolle begleitet er die Stimme in einem beständigen Dialog mit ihr. Man könnte es so sehen, dass er die negative Seite des Textes vertritt, sozusagen seinen "verfluchten" Teil, und damit eine zweite Interpretation der Stimme ist. Der Kontrabass ist hier so geschrieben, dass er den Modulationen der Stimme folgt, um mit ihr zu verschmelzen. Diese Konstellation ist für das Stück extrem wichtig; durch den Kontrabass entsteht die Verbindung zwischen Instrumentalensemble und Text.
Meine kompositorische Arbeit fokussiert in diesem Stück etwas, das ich das Infra-Saturierte nenne. Anders als meine anderen Stücke, in denen es um die Arbeit an einer totalen Saturierung geht, deren Motor die Energie ist, steht hier eher ein durch eine zu große Energie verwüstetes Universum im Vordergrund, in dem das, was einmal war, nur noch auf gespenstische Weise überlebt. Die Infra-Saturation ist eine Welt, in der nur noch ein fernes Vorüberziehen der Flammen übrig ist, eine Welt, die aus Asche besteht, die Beschwörung von enormer Energie. Es ist das Reich der Orte, die von vergangenem Schmerz besessen und in unendliche Nacht getaucht sind. Es ist, wie es Georges Didi-Huberman (in Génie du non-lieu) so klar im Bezug auf die Hiroshimabombe gesagt hat: "Jener Abdruck einer Leiter, ihre präzise Pulverisierung, diese Aschenform eines vom Feuer zerstörten Objekts, liegt genau auf der Grenze zwischen zwei extremen Zuständen der Dinge: auf der einen Seite ein gigantischer Blitz, der den ganzen Himmel zur Explosion bringt, und auf der anderen Seite eine gigantische Eintönigkeit, die die ganze Erde erstickt. Ein brüchiger Faden, gespannt zwischen der Herrschaft des Feuers und der Herrschaft der Asche." Dem Konzept der Saturierung ist der Begriff des Exzesses implizit, und es steht für Extreme, weist ein mittleres Maß zurück. Der Exzess der Töne und der Informationen, der bis aufs letzte ausgeschöpft wird, eröffnet neue Wege der Arbeit an der Klangfarbe. Über die Saturierung hinaus, aber immer noch von ihr getragen, ist die Infra-Saturation nichts als die Beschwörung ihrer eigenen Finsternis, die Ausbreitung einer schwarzen Energie, ein Abstieg in die Hölle ihres Zustands der Saturation.
Für dieses Projekt möchte ich mich beim Ictus Ensemble für seine wichtige Hilfe bedanken, bei Romain Bischoff für die gemeinsame Forschungsarbeit und bei Grégory Beller. Ich bedanke mich auch bei all denen, die das Projekt unterstützt haben.
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- Donaueschinger Musiktage 2009
- Themen in diesem Beitrag
- Raphaël Cendo, Introduction aux ténèbres auf 3 Texten für die Apokalypse für Bassbariton-Stimme (solo), Kontrabass solo, 13 Spieler und Live-Elektronik
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