Donaueschinger Musiktage 2011 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2011: "Ball schön flach oben rein"

Stand
Autor/in
Bernd Künzig

"Aus der Tiefe des Raums": Wäre der Titel nicht bereits an einen skurrilen Tipp-Kick-Film und an die Autobiografie von Günther Netzer vergeben, er könnte durchaus auch im Kontext der neuen Musik auftauchen. Denn Raum und Zeit sind von jeher Kategorien der Klangformung gewesen. Aber der avancierte Klangausdruck der neuen Musik und Fußball bei den Donaueschinger Musiktagen: wie geht das zusammen? Für den Klangkünstler Erwin Stache, der nach 2002 und 2007 zum dritten Mal eine Arbeit bei den Musiktagen präsentiert, ist dies eine besondere Herausforderung: "Da ich weiß, dass der Fußball an sich auch eine Leidenschaft von Musikern ist – viele Orchester haben auch ihre eigenen Mannschaften – war das der erste Gedanke." So beschreibt Erwin Stache den Ausgangspunkt seiner Klangperformance. Nicht zuletzt hat auch der Fan der neuen Musik einiges gemeinsam mit dem Fußballfan: Sie teilen die Leidenschaft für das Unerwartete. Was die Akteure auf dem Feld selbst betrifft: Es "spielt" eben nicht nur der Musiker, sondern auch der Ballakteur. Beides lässt sich aus der Sicht Erwin Staches auch technisch scheinbar mühelos miteinander vereinen: "Es gibt Bänder, die mit Klettverschlüssen um die Schuhe gebunden werden und entsprechende Sensoren haben. Die registrieren, wann der Schuh auf dem Boden ist und geben diese Information an ein großes Mischpult weiter. Und dieses Mischpult gibt es wieder zurück an die Spieler, die dann ein eigenes Soundmodul haben. Jeder Schritt wird also in einen Ton umgewandelt. Mit den am Körper befestigten Lautsprechern ist jeder Spieler auch eine Schallquelle. Seine Schritte trägt er als Schall nach außen, woraus sich verschiedene Rhythmen und verschiedene Klänge ergeben. Das wird dann wirklich interessant, wenn die Spieler ihre Position wechseln oder wenn Fahrt in das Spiel oder es zur Stagnation kommt."

In Erwin Staches Performance wird nicht nur ein Fußballspiel akustische Realität, es geht vielmehr auch um die spielcharakteristischen Elemente von Zufall und Kalkulation, von Freiheit und Regeln. Und das macht ein Fußballspiel durchaus mit dem Komponieren von Klangabläufen vergleichbar: "Eigentlich ist es zufällig, aber ich kann es beeinflussen. Es wird auch eine Situation geben, wo eine Mannschaft sehr laut ist, sehr laute, sehr aggressive Töne abgibt und die andere Mannschaft fast im Piano verschwindet, also fast unhörbar ist. Oder wenn zum Beispiel auch alle Spieler den gleichen Ton haben, dass es gar keinen Unterschied zwischen den Gegnern gibt, so dass es eine Irritation ist oder dass auch die Hälfte der Mannschaft so klingt wie der Gegner und umgekehrt. Also es gibt da sehr viele Variablen, die nicht zufällig sind, aber die Tonfolgen und die Rhythmen, die entstehen, die Klanggebilde, sind natürlich vom Zufall beeinflusst."

Wie bei einem richtigen Fußballspiel werden auch in Staches Performance Mannschaften gegeneinander antreten. Dennoch steht nicht das Gewinnen im Mittelpunkt, sondern der Spielablauf an sich: "Mir geht es nicht darum, dass irgendeine Mannschaft gewinnt und ich deshalb sie klanglich so beeinflusse, dass sie gewinnt. Ich bin für den Klang verantwortlich und will das benutzen, was mir die Spieler geben. Es ist die Frage, was ich will und ob ich will, dass eine Mannschaft gewinnt oder ob ich will, dass das ein interessantes Zusammenspiel ergibt." Und so wird es bei den Donaueschinger Musiktagen im Sinne des spielerischen Zusammenklangs heißen: "Stache vor, noch ein Tor!"

Bernd Künzig (Erwin Staches Aussagen sind einem Telefoninterview mit dem Klangkünstler entnommen.)

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Bernd Künzig