Donaueschinger Musiktage 2005 | Vorwort

Zum Programm des Jahres 2005: (How) Donaueschingen Sounds

Stand
Autor/in
Lydia Jeschke

55 Jahre SWR Sinfonieorchester bei den Musiktagen

"Irgendwer", so schreibt Hans-Klaus Jungheinrich in einer Besprechung der Donaueschinger Musiktage 2003 (Frankfurter Rundschau, 21.10.2003), irgendwer habe "irgendwann den halbernst-sarkastischen Terminus ‚Donaueschingen-Sound'" kreiert, der dem "prominentesten deutschen Forum der Komponieravantgarde nun – leicht gespenstisch – anhaftet". Die Vorstellung eines Klangs "à la Donaueschingen" kursiert tatsächlich; vor Jungheinrich hat u.a. Reinhard Schulz, nach ihm Max Nyffeler darauf verwiesen. Aber auch aus früheren Jahrzehnten kennen wir die Sorge ums allzu Typische: "Von der Vieltönerei zur Eintönerei", übertitelte etwa die Stuttgarter Zeitung schon am 18.10.1955 ihre Besprechung der Donaueschinger Musiktage.

Gibt es ihn denn nun wirklich, diesen selten näher definierten, aber in der Kritik immer wieder beschworenen "Donaueschingen-Sound"? Die Antwort ist eindeutig: ja. Die Begründung ebenso simpel wie grundsätzlich: Kein anderes Festival für zeitgenössische Musik hat über eine so lange Zeit mit auch nur annähernder Konsequenz in Quantität und Qualität ein Orchester im Boot. Oder umgekehrt: Erst die regelmäßige Mitwirkung des SWR Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg bestimmt seit 1950 die Größe und Beschaffenheit des Bootes, das – in einer variierenden Form, in der Elemente eines Ausflugsdampfers, eines Schlachtschiffs und eines space shuttles immer neu kombiniert werden – alljährlich an der Donauquelle anlegt. Ein Schlauchboot (dem schnell die Luft ausgehen könnte) kommt für ein Festival mit Orchester eben erst gar nicht in Frage.

1950-1962

Seit dem fünften Jahr seines Bestehens und beginnend mit der Wiederbelebung der Donaueschinger Musiktage nach dem Zweiten Weltkrieg ist das Orchester also ständiger Begleiter des Festivals. Aber es zeigt nicht nur Präsenz – es klingt auch; it sounds. Heinrich Strobel, legendärer Musikchef des damaligen SWF, holte nicht nur das damalige SWF Sinfonieorchester Baden-Baden nach Donaueschingen, sondern verpflichtete auch den vormaligen Chef der Münchner Philharmoniker, Hans Rosbaud, als dessen Dirigenten. Rosbauds Auffassung, der Kulturauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks beinhalte vor allem großen Einsatz für das Neue, noch Unbekannte, führte zu Interpretationen und Uraufführungen mit Kultstatus; die Presse bescheinigte den Musikern "Löwenmut" (Badische Zeitung, 19.10.1960).
So spielte das Orchester unter Rosbaud im selben Konzert, am 11. Oktober 1953, die Due espressioni per orchestra – jene Klangfarbenstudie des damals noch nicht dreißigjährigen Luigi Nono, die den Möglichkeiten der verschiedenen Orchesterinstrumente in ihren Randbereichen und Übergängen auf der Spur ist – und (mit der Solistin Yvonne Loriod) Réveil des oiseaux für Klavier und Orchester von Olivier Messiaen, das erste Werk, in dem der Komponist sein Material ausschließlich aus Vogelrufen ableitet. In beiden Fällen handelte es sich um Uraufführungen von Auftragswerken für das SWF Sinfonieorchester. Kritik hagelte es auf beide Stücke, wenngleich von unterschiedlichen Seiten: Schien Messiaens Musik zu "naturalistisch", so tadelte man Nonos Klänge, vor allem im zweiten Satz, als zu "abstrakt". Inzwischen nehmen beide Werke in der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts feste Plätze ein, nicht unähnlich der dritten Symphonie oder den Nachtstücken und Arien von Hans Werner Henze, Metastaseis von Iannis Xenakis, Varianti von Nono, Poésie pour pouvoir von Pierre Boulez, Anaklasis von Krysztof Penderecki, Atmosphères von György Ligeti...; die Reihe ließe sich fortsetzen.

Solche "Meilensteine" der Orchesterliteratur lassen sich allerdings nicht nach Katalog bestellen. Auch für das beteiligte Orchester war der Steinbruch Donaueschinger Musiktage schon in den frühen Jahren eine oft staubige Baustelle, musikalisches Geröll stets inbegriffen. Dass man Kompositionen wie Everett Helms Concerto für fünf Soloinstrumente, Schlagzeug und Streichorchester, Conrad Becks Orchester-Hymne oder Mordechai Sheinkmans Klavierkonzert wie so viele andere heute längst vergessen hat, heißt ja nicht, dass sie nicht arbeitsintensiv geprobt und bestmöglich aufgeführt wurden. Ein prominentes Beispiel für den Experimentcharakter mit hohem Einsatz ist Pierre Boulez' "Polyphonie X" für 18 Solostreicher: In dem 1951 in Donaueschingen uraufgeführten Stück versuchte Boulez, kurz nach der Komposition der Structures I für zwei Klaviere, eine durch und durch serielle Strukturierung. Publikum und Kritik reagierten teils entsetzt; zugleich aber begann Boulez nicht zuletzt mit diesem Donaueschinger Auftritt seine internationale Karriere. Das Stück allerdings, das ihm selbst zu schematisch erschien, zog er alsbald zurück. Es wurde nur noch ein weiteres Mal öffentlich gespielt.

1963-1979

Ernest Bour folgte als Chefdirigent des SWF Sinfonieorchesters und setzte die Reihe der besonderen Aufführungen, respektive Uraufführungen, in Donaueschingen fort. Zu letzteren gehören so unterschiedliche Kompositionen wie György Ligetis riesiges Klangflächen-Werk Lontano oder die Sinfonia von Luciano Berio mit ihrer tiefenscharfen Verarbeitung der sinfonischen Tradition, Helmut Lachenmanns erster Auftritt bei den Musiktagen mit dem Orchesterwerk Schwankungen am Rand ebenso wie die im Uraufführungsjahr 1974 äußerst umstrittene Morphonie für Orchester mit Solostreichquartett von Wolfgang Rihm, das Donaueschingen-Debut des damals 22jährigen Komponisten. Beide letztgenannten Werke sind auf ihre Weise radikal – und forderten zugleich eine geradezu gegensätzliche Herangehensweise der Orchestermusiker. Besann sich die Musik Lachenmanns konsequent auf die im Uraufführungsjahr 1975 noch äußerst unkonventionellen Bedingungen der Klangerzeugung, auf tonlose Bogenbewegungen, Luftgeräusche, Knattern, Knacksen und Reibelaute, so bescheinigte man Rihm, der im Sinne klangvoller Expressivität auch vor tonalen Passagen nicht zurückschreckte, eine "gefahrvolle Neigung zum Pathos" (Südwestdeutsche Zeitung). Später sollte dieser "a-modische Gestus" das Etikett "Postmoderne" erhalten.

Berio, Rihm und Lachenmann hatten in den Folgejahren weitere historische Uraufführungen in Donaueschingen. So u.a. auch Dieter Schnebel, Paul-Heinz Dittrich, Brian Ferneyhough oder Cristóbal Halffter. Die Musik der 1970er Jahre machte indes auch vor der Selbstreflexion ihrer Aufführenden nicht halt: In den Standpunkten von Vinko Globokar spielte das SWF Sinfonieorchester zusammen mit Sprechern, Solisten und Chor eine Musik, die zugleich die Bedingungen und Möglichkeiten des Konzertierens transportiert; eine soziologische Musik, wenn man so will.

1980-1999

Kazimierz Kord dirigierte als Chefdirigent des damaligen SWF Sinfonieorchesters zwischen 1980 und 1986 u.a. Emmanuel Nunes' Nachtmusik II oder Hans Zenders Dialog mit Haydn für drei Orchestergruppen, Witold Lutosławskis organisch-traditionsverbundene Dritte Sinfonie ebenso wie die hintersinnig-revolutionären Nocturnes, Stück für Orchester mit zwei Bagatellen von Nicolaus A. Huber.

Dann folgte die Ära Michael Gielen, in dessen Zeit als Chefdirigent erneut legendäre Donaueschinger Projekte realisiert wurden, darunter Uraufführungen von z.B. Dieter Schnebels raumgreifender Sinfonie X für großes Orchester, Live-Elektronik und Tonband (die, in nochmals starker Erweiterung, unlängst in Berlin eine Fortschreibung erfuhr) oder auch von passage/paysage von Mathias Spahlinger, einem Stück, das, während es den einzelnen Musiker an Grenzen des technisch Machbaren führt, mit Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Zusammenklangs eines Orchesters spielt. In Vinko Globokars Masse, Macht und Individuum für Orchester und vier Solisten wird das Orchester als Apparat zentrales kompositorisches Thema.

Mit Hilfe dieses Apparates und seines Dirigenten kommt es immer wieder zu Entdeckungen neuer Komponisten; folgenreich war die Uraufführung der Landscape with Martyrdom für großes Orchester, jener allerersten öffentlich gespielten Komposition des Amerikaners George Lopez, deren Donaueschinger Interpretation 1987 eine kompositorische Laufbahn begründete. Maßstäbe in der Interpretation Neuer Orchestermusik setzten unter Michael Gielen neben den Uraufführungen auch die Aufführungen von Nonos No hay caminos. Hay que caminar... Andrej Tarkovskij oder A Carlo Scarpa, Bernd Alois Zimmermanns Oboenkonzert oder Boulez' Figures-Doubles-Prismes für großes Orchester.

Gegenwart und Fazit

Seit 1999 setzt Sylvain Cambreling als Chefdirigent (gemeinsam mit Michael Gielen und Hans Zender als ständigen Gastdirigenten) die Reihe der Donaueschinger Orchesterexperimente fort. Dass sich auch unter den jüngeren der nun beinahe 400 (!) Auftragswerke für Orchester einige finden, die dabei sind, Musikgeschichte zu schreiben, steht sehr zu vermuten, wird sich aber zu einem späteren Zeitpunkt entscheiden. Die Liste kann schon für frühere Zeiten an dieser Stelle nicht vollständig sein. Und natürlich leiteten und leiten auch andere Dirigenten bedeutende Aufführungen in Donaueschingen, unter ihnen Igor Strawinsky, Peter Eötvös, Lothar Zagrosek, Zsolt Nagy, Olaf Henzold, Karlheinz Stockhausen und Pierre Boulez. Sie alle arbeiten mit einem Orchester, das sich wie kein anderes um die zeitgenössische Musik der letzten 55 Jahre verdient gemacht hat und dies, ohne zu einem Spezialensemble zu mutieren. Im Gegenteil: Die gegenseitige Befruchtung der Musik früherer und gegenwärtiger Zeiten ist wesentlicher Bestandteil des Erfolges.

So wie die Epochen der Musikgeschichte (füreinander) durchlässig werden, so wird es im Zuge technischer Entwicklungen aber auch der Klangkörper Sinfonieorchester selbst. Vor allem durch einen anderen Klangkörper des SWR ergeben sich immer neue klangfarbliche Möglichkeiten, die das Orchester erweitern: durch das Freiburger Experimentalstudio der Heinrich-Strobel-Stiftung des SWR. Beide "Körper" – der eine ein Organismus aus einer Vielzahl unterschiedlicher Individuen und ihrer Instrumente, der andere ein Instrument aus der Verbindung von Musikern und technischem Gerät – arbeiten schon seit den 1977 uraufgeführten Variationen über den Nachhall eines Schreis von Cristóbal Halffter aktiv zusammen. Die Arbeit mit Elektronik fordert den Musikern des Orchesters nochmals eine neue Form des Aufgeschlossenseins ab – geschuldet der Tatsache, dass nicht mehr sie allein durch ihr Spiel über die resultierenden Klänge entscheiden.
Aufgeschlossenheit ist ohnehin eine notwendige Grundeigenschaft, ohne die das Projekt Neue Orchestermusik in Donaueschingen längst gescheitert wäre. Nur gelegentlich geriet die Aufgeschlossenheit der Orchestermitglieder gegenüber dem Ungewohnten an ihre Grenzen, etwa, wenn aufgrund überbordender Dezibel-Zahlen in der Probenphase über Körperverletzung und Lärmschutz diskutiert werden musste. Andere "Un-Möglichkeiten" wie Spielen im Gehen, Sitzordnungen aller Arten, Singen, Pfeifen, das Spielen zusätzlicher Instrumente u.a.m. haben längst die negative Vorsilbe verloren.

Fazit

Wie also klingt das Orchester in Donaueschingen? Wie klingt es unter den verschiedenen Dirigenten, in den verschiedenen Musikergenerationen, zu verschiedenen Zeiten? Tatsächlich ermöglicht seine besondere Existenz als Rundfunkorchester, noch heute die Mitschnitte aller Konzerte nachzuhören, und so lässt sich durchaus im Präsens sprechen.

Es klingt also: In ernsthafter Strukturgenauigkeit – oder als leichtes Spiel der Klangfarben. Es klingt homophon – und polyphon. Linear, flächig – oder räumlich. Als Lärm, als Rauschen, als soziales Experiment. Es gerät in Bewegung – oder versteinert zum Monolithen. Es klingt klassizistisch, modern, avantgardistisch oder postmodern. Laut oder leise, ernsthaft oder verschmitzt. Es klingt wie ein Orchester – und manchmal nicht einmal das.

Was Helmut Lachenmann als Bedingung seines eigenen Komponierens formulierte, nämlich in jedem neuen Stück auch dessen Instrumentarium neu zu erfinden, ließe sich auf die guten, geglückten Uraufführungsmomente in Donaueschinger Orchesterkonzerten übertragen: In einem geglückten neuen Stück werden der Klang oder das Spiel des Orchesters, wird, wenn man so will, das Orchester selbst jeweils wieder neu definiert. Nur weniger gute Stücke klingen einfach "nach Donaueschingen". Das nämlich deutet auf eine Art Schnittmenge des Spektrums, auf einen Mittelwert des Möglichen und schon Erprobten, man könnte auch sagen: auf ein Mittelmaß. Kaum überraschend, dass es dann langweilig wird. Wahre "Donaueschingen-Sounds" aber sind die aufregenden, die im Laufe der Jahre und Jahrzehnte hier er- oder gefunden wurden – und diejenigen, die noch allererst zu entdecken sind.

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Lydia Jeschke