Gershwin erfährt von seinem neuen Jazzkonzert aus der Zeitung
New York am Abend des 3. Januar 1924: George Gershwin sitzt an der Komposition eines neuen Jazzkonzerts. Oder zumindest sollte er, denn Gershwin, der an diesem Abend mit Freunden Billard spielt, erfährt es – wie alle anderen Zeitungsleserinnen und -leser aus der „New York Tribune“. Dort hat der Bandleader Paul Whiteman einen Artikel lanciert, unter Verweis auf ein anstehendes Konzert.
Whiteman plant mit seinem Tanzorchester, dem Palais Royal Orchestra, am 12. Februar einen Konzertabend in der New Yorker Aeolian Concert Hall. Der Titel: „An Experiment in Modern Music“ („Ein Experiment in moderner Musik“). Eben dort soll George Gershwins neues „Jazz Concerto“ zur Uraufführung kommen.
Der New Yorker „King of Jazz“
Gershwin kennt Whiteman vom Broadway. Dort haben der Komponist und der Bandleader unter anderem in George Whites Revueshow „The Scandals of 1922“ zusammengearbeitet.
Whiteman ist in der New Yorker Musik-Szene alles andere als ein Fliegengewicht. Im Ersten Weltkrieg beginnt der Musiker aus Denver, Colorado, in einem 12-köpfigen Navy-Orchester mit dem Dirigieren. Nach dem Krieg formt er das „Paul Whiteman Orchestra“. Es ist ein erfolgreiches Tanzorchester, mit dem er ab 1920 in New York auftritt und Platten aufnimmt.
Die Aufnahmen verhelfen Whiteman und seinem Ensemble zu nationaler Bekanntheit, ihm gelingen die ersten Millionenseller des noch jungen Plattengeschäfts. Der Dirigent versucht alles, dem Jazz den zweifelhaften Beigeschmack der Nachtclubs zu nehmen, und ihn auch in den Konzertsälen zu etablieren. Dafür will er ihn durch feste symphonische Arrangements weitestgehend standardisieren und im wahrsten Sinne des Wortes weiß waschen.
Und damit trifft er den Nerv seiner Zeit: In der Presse wird Whiteman zum „King of Jazz“ hochgeschrieben – eine Adelung, die der Dirigent nur zu gerne für sich in Anspruch nimmt, wenngleich der Titel aus Sicht nachfolgender Generationen Musikern wie Louis Armstrong deutlich besser zu Gesicht gestanden hätte.
ARD Mediathek Kirill Gerstein und das BRSO unter Erina Yashima spielen die „Rhapsody in Blue“
Der Pianist Kirill Gerstein und Solistinnen und Solisten vom Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Leitung von Dirigentin Erina Yashima spielen "Rhapsody in Blue" von George Gershwin in einer Aufnahme von 2023.
Gershwins Jazz-Oper beeindruckt Whiteman
Gershwin ist gerade einmal 25 Jahre alt. Der Sohn jüdischer Immigranten aus Sankt Petersburg wird im jiddischen Theaterdistrikt von Manhattan groß. 1919 landet er seinen ersten Erfolg, als der Broadway-Star Al Jolson seinen Song „Swanee“ in seine Shows aufnimmt. In der Folge kann er mehrfach mit Songs für Broadway-Shows punkten.
Paul Whiteman ist von Gershwins Stil beeindruckt. Besonders „Blue Monday“, eine einaktige „Opera à la Afro-Americaine“, die Gershwin 1922 schreibt, weckt Whitemans Interesse. Das Stück gilt heute als die Initialzündung des symphonischen Jazz und ist auch musikalisch ein Vorgänger von Gershwins ambitionierter Jazz-Oper „Porgy and Bess“ (1935).
Fünf Wochen für die Komposition eines Meisterwerks
Nun, an diesem 3. Januar 1924, erfährt Gershwin von seinem Glück. Es ist ein Auftrag, den er schon Wochen zuvor abgelehnt hatte, weil ihm die Zeit für eine neue Komposition fehlte. Doch in der Zwischenzeit hat sich seine Haltung geändert. Wie es der Zufall will, ist ihm in der Zwischenzeit bei einer Bahnfahrt die zündende Idee für ein neues Stück gekommen. Seinem Biografen Isaac Goldman erzählt Gershwin:
Die Zeit ist knapp, nur fünf Wochen bis zur Aufführung. Gershwin konzentriert sich auf die Komposition der Themen. Die Orchestrierung überlässt er – wie für Broadway-Komponisten bis heute nicht unüblich – seinem Arrangeur. Auch hier kommt Paul Whiteman wieder zum Zug, der Gershwin mit Ferde Gofré, dem Hauptarrangeur seines Palais Royal Orchestra, zusammenbringt. Gofré orchestriert später auch die große Orchesterfassung, die heute meistgespielte Version des Stücks.
„So klingt amerikanische Musik“
Wie in der Zeitung angekündigt, kommt die „Rhapsody in Blue“ am 12. Februar 1924 zur Uraufführung. Am Klavier sitzt der Komponist selbst. Das Stück gerät zum Welterfolg. So klinge amerikanische Musik, jubelt die Presse.
Für Gershwin wird das Orchesterstück zu seinem großen Durchbruch. Es gibt in seinem Gesamtwerk eine Zeit vor und eine Zeit nach diesem schicksalhaften Abend in der Aeolian Concert Hall. Kompositionen wie „An American in Paris“, das Concerto in F und eben „Porgy and Bess“ – sie alle wären ohne den Erfolg der „Rhapsody in Blue“ wohl nicht in ihrer späteren Form entstanden.
Makoto Ozone und die NDR Radiophilharmonie unter Andrew Manze spielen Gershwin:
Gershwins stirbt 1937 mit nur 38 Jahren an einem Hirntumor. Sein früher, tragischer Tod zementiert seinen Nachruhm, auch im Kino: 1945 spielt Robert Alda den Komponisten in einem schmachtig-verklärenden Biopic mit dem Titel, selbstverständlich, „Rhapsodie in Blau“.
Mit dabei, nicht minder selbstverständlich, der „King of Jazz“ Paul Whiteman, der sich als Dirigent des berühmten Gershwin-Orchesterwerks selbst spielt. Die Welt soll nicht vergessen, wer der Förderer des großen Gershwin war. Die Episode mit dem Zeitungstrick spart der Film dabei natürlich aus.