Portrait

Lonnie Holley: Ein musikalischer Magnet

Stand
Autor/in
Martina Senghas
Künstler/in
Lonnie Holley
Onlinefassung
Sebastian Kiefl

Von wegen „Was Hänschen nicht lernt…“ – man kann auch erst mit über 60 Jahren sein erstes Musikalbum aufnehmen und damit erfolgreich durchstarten. Der Afro-Amerikaner Lonnie Holley hatte sich in den 1980er Jahren zunächst einen Namen als bildender Künstler gemacht, und veröffentlichte 2012 erstmals ein Album.

Klage und Trost zugleich

Inzwischen ist Lonnie Holley über 70 und wenn er auf der Bühne steht, dann ist das wie ein Blick in die Geschichte des Jazz. Wenn er anfängt zu singen, dann gibt er keinen auswendig gelernten Text wieder.

Es ist vielmehr so, als würden die Worte spontan aus einem Teil von ihm strömen, der so etwas wie ein kollektives Gedächtnis ist. Worte, die etwas über die Geschichte aller Afroamerikaner erzählen, die Nachfahren von Sklaven sind.

Und beim Enoy-Jazz-Konzert mit der Sängerin Moor Mother – ebenfalls Afroamerikanerin – entsteht daraus eine Klage, ein Blues. Gleichzeitig scheinen die Musik und die Performance selbst ein Trost zu sein.

Mit 4 Jahren gegen Whiskey eingetauscht

Der Künstler wuchs in Birmingham, Alabama auf. Er wurde 1950 als siebtes von 27 Kindern geboren. Eine tingelnde Burlesque-Tänzerin soll ihn gestohlen und aufgezogen und schließlich mit vier Jahren gegen eine Flasche Whiskey eingetauscht haben.

„Und so fabulös geht es weiter“ heißt es im Programmheft von Enjoy Jazz. Was außer Frage steht, ist, dass seine Kindheit und Jugend von Armut und Ausgrenzung geprägt waren. Es war die Zeit der Segregation.

„Ich hatte ein hartes Leben. Aber wenn ich jetzt drauf schaue muss ich sagen: es war nicht so hart wie das meines Großvaters und meinen Vaters. Es war nicht so hart wie das meiner Großmutter und meiner Mutter, weil sie mit solcher Angst leben mussten. Ich musste auch mit Angst leben, aber nicht so erniedrigt und dreckig wie sie.“ – Loonie Holley

Musikalische Entdeckung mit 62 Jahren

Lonnie Holley will im Interview nicht viel über sich selbst erzählen. Er relativiert seine eigenen leidvollen Erfahrungen damit, dass andere es noch schwerer hatten – und haben – als er.

Ihn hat die Kunst gerettet und entdeckt hat er sie durch einen bitteren Zufall. Eine seiner Schwestern war am Boden zerstört, weil ihre zwei Kinder bei einem Brand ums Leben gekommen waren. Dass sie kein Geld hatte, um Grabsteine zu kaufen, ließ sie noch mehr verzweifeln.

Lonnie Holley machte daraufhin aus Industrieabfällen zwei Grabsteine für seine Nichte und seinen Neffen und erlebte, wieviel Trost in diesen Objekten steckte. Für ihn und seine Schwester. Wenige Jahre später waren seine Skulpturen aus Schrott und anderen Fundstücken viel beachtete Kunst, die in Museen landete. Bis er auch als Musiker Beachtung fand, sollte es allerdings bis zu seinem 62. Lebensjahr dauern.

Funk Elektro Predigt Gospel

Es gebe einen Unterschied zwischen seiner visuellen Kunst und seiner Musik, meint der 73-Jährige. Als Musiker setzte er die Worte, die in seinem Kopf rumschwirren, zusammen. Und als Künstler das, was andere weggeworfen haben, um zu sagen, dass wir vorsichtig mit unserem Abfall umgehen müssen.

Doch es gibt auch eine Ähnlichkeit zwischen beidem, denn auch seine Musik besteht aus allen möglichen Versatzstücken: Funk- und Elektrosounds, Gospel und Predigt, disharmonischem Kreischen und treibender Percussion.

Musikalischer Magnet

Erst im März hat Lonnie Holley sein sechstes Album mit dem Titel „Oh Me Oh My“ herausgegeben. Darauf zu hören sind unter anderem Michael Stipe von der Band Alternativ-Rockband r.e.m und die Indie-Folk-Formation Bon Iver.

Lonnie Holley strahlt eine künstlerische Kraft aus, die auch andere Musiker anzieht. Vielleicht weil sie so unverstellt und unmittelbar, so pures Bedürfnis und – auch wenn er manchmal in Rätseln zu reden scheint – irgendwie weise ist.

„Die Erde wird da sein, wenn wir fallen. Ich glaube, je tiefer wir gehen, desto mehr können wir verstehen. Und Musik ist eine Möglichkeit, sich mit dem Universum zu verbinden.“

Stand
Autor/in
Martina Senghas
Künstler/in
Lonnie Holley
Onlinefassung
Sebastian Kiefl