Hinter dem Horizont flackert der Flammenschein von Luisas zerstörter Heimatstadt Kiel. Auf dem Gutshof mit Milchwirtschaft, wohin sie mit ihrer Mutter und der älteren Schwester evakuiert wurde, treffen immer mehr Flüchtlinge aus dem Osten ein. Während britische Bombergeschwader über den Himmel ziehen, fantasieren die einen über Wunderwaffen des Führers, die anderen verwandeln ihre heimliche Verzweiflung in Zynismus und Alkoholkonsum.
Beunruhigt durch die Schreckensnachrichten über die anrückenden Russen erkundigt sich Luisa bei ihrer sexuell erfahrenen Schwester Billie, ob Vergewaltigung weh tue. Doch dann ist es kein Russe, der ihr Gewalt antut, sondern ihr Schwager, der zu den Nazi-Größen der Region gehört. Am Ende hängt sich Luisas Vater in der Scheune auf und ihre Mutter versinkt in schnapsgetränkten Depressionen. „Ich hab alles erlebt“, lautet Luisas Fazit, nachdem sie dreizehn geworden und der Krieg zu Ende ist.
Nur ein weiterer Roman über den Zweiten Weltkrieg?
Noch ein Roman über den Krieg und die letzten Tage Nazi-Deutschlands - nur diesmal aus der Perspektive einer Zwölfjährigen. Was kann das bringen angesichts der Fülle von Büchern zum Thema? Da ist es nicht leicht, immer wieder die Unterscheidung zwischen Kunst und marktgängiger Masche zu treffen.
Im Falle von Ralf Rothmanns Kriegsroman „Im Frühling sterben“ konstatierte Roman Bucheli vor drei Jahren in der „Neuen Zürcher Zeitung“ einen Rückfall auf überholte und entlastende Erzählmuster aus der Nachkriegszeit. Tatsächlich hat Bucheli damit einen schwachen Punkt von Rothmanns Schreiben über den Krieg getroffen. Trotzdem zeichnet sich dieser Autor dadurch aus, dass ihm im Spektrum von drastischem Realismus und metaphorischen Überhöhungen immer wieder bewegende Szenen und Bilder gelingen. Ganz abgesehen von einer farbigen Figurenzeichnung.
Alle Hauptrollen sind mit Frauen besetzt
Besonders interessant ist, dass Rothmann nach dem Front- und Soldatenroman „Im Frühling sterben“ nun mit „Der Gott jenes Sommers“ einen Roman über das zivile Leben im Krieg nachfolgen lässt. Denn alle Hauptrollen sind darin von Frauen besetzt. Das gilt sogar für Luisa, obwohl sie erst zwölf ist. Vor allem die ältere, vor Frivolität und Sarkasmus sprühende Schwester Billie, die eine großartige Verkörperung illusionsloser Lebenslust darstellt, vermittelt der Jüngeren viele Einblicke über die Wahrheiten und Lügen des Erwachsenenlebens. In dem Melker Walter dagegen, dem Luisa bei der Geburt eines Kalbes zur Hand geht, lernt sie einen Mann kennen, der ihr gefallen könnte.
Mit den Schilderungen des Alltags auf dem Gut zeichnet Rothmann einprägsame Genreszenen vom Provinzleben unter Kriegsbedingungen. Der einzige Überlebende eines abgestürzten britischen Bombers wird kurzerhand erschossen. In einer verbotenen Zone nahebei müssen Häftlinge hinter Stacheldraht und unter scharfer Bewachung Torf stechen. Ein erzählerisches Kabinettstück ist die Schilderung einer großen Festivität mit Nazi-Granden kurz vor dem Untergang, zu der Luisas Familie auf Grund verwandtschaftlicher Beziehungen geladen ist.
Eine konservative Erzähltechnik, die starke Eindrücke hinterlässt
Es ist wahr: Auf merkwürdige Weise vermittelt auch dieser Roman durch seine erzählerische Atmosphäre den Eindruck, als wäre er in den fünfziger Jahren geschrieben worden. Dazu passen die eingestreuten Kapitel, in denen Parallelen zwischen dem Zweiten Weltkrieg und dem Dreißigjährigen Krieg gezogen werden. Das ist von zwiespältigem Reiz, aber dennoch hinterlässt es starke Eindrücke. Denn Rothmann bleibt immer sehr nahe an den Erfahrungen seiner Figuren, auch wenn er dabei die Moderne nicht neu erfindet.