SWR2 Literaturredakteur Carsten Otte im Gespräch mit Ulrich Noller
Carsten Otte: Wenn unter Literaturkritikern das Gespräch auf den Schweizer Schriftsteller Martin Suter kommt, scheiden sich die Geister. Die einen halten die Texte für minderliterarisch, die anderen haben durchaus Vergnügen an Dramaturgie und Geschichte der Romane, die sich an ein breites Publikum richten. Spricht man mit Leserinnen und Lesern, die nichts mit dem Literaturbetrieb zu tun haben, dann stellt man fest: Kaum ein Autor ist so beliebt wie Martin Suter, ob nun als Urlaubslektüre oder Einschlafhilfe. Das sieht man natürlich auch an den Verkaufszahlen, Suter-Bücher sind garantiert Bestseller, was wiederum im Literaturbetrieb Argwohn produziert.
Um es vorneweg zu sagen: Ich habe so gut wie alle Suter-Bücher gelesen, manche mochte ich sehr, wie etwa „Small World“ oder auch „Der letzte Weynfeldt“. Andere haben mich nicht überzeugen können, wie etwa „Lila, lila“ oder „Der Teufel von Mailand.“
Nun zu Suters neuem Roman: „Elefant“. Um auch das vorab zu klären, Herr Noller: Sind Sie Suter-Fan, Suter-Feind oder, wie ich, irgendwie dazwischen?
Ulrich Noller: Mir geht es ganz ähnlich wie Ihnen, ich bin irgendwie dazwischen. Es gab einige Geschichten von ihm, die ich wirklich faszinierend und packend fand, und andere, die mich etwas enttäuscht haben. Mein Eindruck ist, dass Martin Suter immer auf dem Grat zwischen guter und etwas misslungener Unterhaltung wandelt.
Der Roman beginnt in der Obdachlosenszene Zürichs, ein Trinker namens Schoch kann es nicht glauben, plötzlich steht da ein rosa leuchtender Zwergelefant vor ihm. Er fragt sich natürlich, ob er zu viel getrunken hat, aber nein, der rosa Elefant ist echt. Wo kommt der denn her?
Der Elefant stammt aus einem Zirkus, wo er zur Welt gekommen ist. Er ist aber das Produkt eines Experiments, das ein Forscher vorgenommen hat, dessen kleines Institut mit einem riesigen chinesischen Unternehmen zusammenarbeitet. Dieses Unternehmen hat sich spezialisiert auf Eingriffe in die genetische Struktur von Lebewesen. Und es wittert dort, wie der Forscher Doktor Roux, große Geschäfte.
Es gibt in dem Zirkus den Elefantenpfleger Kaung. Der hat in Zusammenarbeit mit einem redlichen Tierarzt, Doktor Reber, dafür gesorgt, dass dieses kleine Geschöpf eben nicht in die Maschinerie dort gekommen ist. Die beiden haben es letztlich befreit. Das setzt eine ganze Reihe von Ereignissen in Gang und am Ende landet dieser Elefant dort am Ufer der Limmat bei dem Obdachlosen in seiner Höhle.
Der ist hin und her gerissen. Kann er das glauben, ist das eine Vision, die dem Alkohol geschuldet ist? Aber dann bewegt sich dieser Elefant, er will was zu fressen und er wird auch noch krank. Deswegen muss der obdachlose Schoch eine Tierärztin aufsuchen, Valerie heißt sie, und dadurch kommen weitere Ereignisse in Gang.
Wir haben es mit ganz unterschiedlichen Blickwinkeln zu tun. Mal befinden wir uns in der Welt des Trinkers Schoch, dann wieder im Zirkus- und Tierpfleger-Milieu und nicht zuletzt im Profitsystems des Genforschers Roux. Jetzt könnte man meinen, die Sympathien seien ungleich verteilt. Aber ich glaube, man sollte es sich nicht so einfach machen, ein klares Plädoyer gegen die Gentechnik ist es nun wiederum auch nicht. Oder doch?
Letztlich gibt es eine klare Rollenaufteilung: hier die Guten und da die Bösen. Aber diese Bösen, wie auch die Guten, sind nicht so eindeutig gezeichnet, wie man es zunächst denken sollte. Also die Bösen sind nicht restlos böse oder ganz und gar unsympathisch. Sie sind halt in ihren Rollen gefangen. Mein Eindruck ist, dass die vielen Figuren Platzhalter sind für verschiedene Positionen zu diesem Thema, das Suter auf vielschichte Weise vor dem Leser ausbreitet.
Und diese Ambivalenz bezieht sich ja auch auf diesen rosa leuchtenden Elefanten. Zunächst denkt man als Leser, wie die anderen Figuren, die zum ersten Mal dieses Wesen sehen: Nein, wie pervers. Aber dann entwickelt man auch Zuneigungen zu diesem lebenden Plüschtier. Auf diese Weise, das finde ich sehr interessant, spielt der Autor auch mit der eigenen Kitschsehnsucht.
Das sieht man dann auch in der Entwicklung der Figuren. Schoch hat aus verschiedensten Gründen mit seinem Leben abgeschlossen. Er lebt auf der Straße und gibt sich dem Alkohol hin. Dieser Schoch schöpft wieder Hoffnung und verändert sich. Und das wird transportiert, anfangs zumindest, eben über die Zuneigung zu diesem Lebewesen. Dieses Lebewesen, und das fand ich wirklich eine interessante Volte in dem Buch, steht für eine große Komplexität – bei aller Einfachheit mit der die Geschichte angelegt und erzählt ist.
Es gibt ja die Befürworter – oft mit Kapitalinteressen – von Eingriffen in die genetische Struktur von Lebewesen. Und es gibt die strikten Gegner, die an die Schöpfung denken. Hier wird ein moralisches Dilemma in diesem kleinen, rosa leuchtenden Elefanten auf den Punkt gebracht. Eigentlich müsste man ihn, wenn man seiner schon habhaft geworden ist, umehend töten, damit diese genetischen Veränderungen sich nicht fortsetzen.
Wenn man gegen diese Gentechnik ist. Aber dann sieht man ihn und man findet ihn ja irgendwie süß.
Genau. Man findet ihn irgendwie süß, auch als Leser. Da wird durchaus an die Kitschstruktur appelliert. Aber das hat natürlich durchaus auch einen handfesten Hintergrund. Es ist ein Lebewesen, das es bislang noch nicht gegeben hat, das recht ungewöhnlich ist – aber ein Lebewesen. Kann man ein Lebewesen einfach töten, aus grundsätzlichen prinzipiellen Gründen? Oder folgt man eben seinem Herzen?
Und was Martin Suter daraus macht, finde ich wirklich sehr intelligent und gewitzt. Auf der Verarbeitung dieses moralischen Dilemmas werden weitere ethisch-moralische Aspekte aufgebaut. Es geht um den Schutz des Lebens und die Frage, wie wir damit umgehen. Und das ist wirklich amüsant, interessant und lehrreich zugleich.
Und es gibt es noch etwas, was mich an diesem Roman wiederrum beeindruckt hat. Martin Suter arbeitet sich ja in all seinen Romanen in neue Themen ein, die durchaus einem gewissen Zeitgeist frönen: die Molekularküche, die Finanzwelt oder auch der Drogenkonsum.
Hier geht es einerseits um die Gentechnik, andererseits wird die Welt der Obdachlosen wirklich sehr, sehr gut beschrieben. Suter ist so etwas wie der große Rechercheur unter den Unterhaltungsromanautoren. Und er schafft es mit diesem Wissen zu unterhalten. Auf welche Weise unterhält er uns denn?
Er nimmt uns mit dem Herzen mit. Mir fiel es relativ leicht, den Kritiker zu "dimmen" und ganz Leser zu sein. Obwohl die vielen Figuren nur skizziert sind, so dass man sich selbst seinen Teil dazu denken muss, kommen sie einem doch nahe durch diesen kleinen "süßen" leuchtenden Elefanten.
Er schafft es, mit seiner Erzählstrategie das Hirn zu überwinden und direkt ans Herz zu gehen – und doch ins Hirn zurückzukommen. Das ist – besonders bei einem Unterhaltungsroman – schon sehr schlau gemacht.
Martin Suter beherrscht besonders die Kunst des Plottens und Zuspitzens. Das macht sicherlich auch seine Unterhaltungskunst aus. Wie wird die Hetzjagd rund um den rosafarbenen Elefanten zugespitzt?
Das ist sehr intelligent dramatisiert. Es gibt eine Abordnung dieses chinesischen Unternehmens, die zusammen mit Doktor Roux diesen Elefanten zurückzubekommen möchte. Es beginnt also eine Jagd, eine Hatz auf den Obdachlosen und die Tierärztin. Die beiden zusammen haben eine Idee, wie sie den Elefanten retten können. Sie landen schließlich in Burma, wo – so viel kann man vielleicht verraten – dieser kleine, leuchtende Elefant als eine Art Gottheit verehrt werden wird.
Mehr werden wir dazu jetzt nicht verraten. Gehen wir mal zurück zu der zentralen Figur, dem Trinker Schoch. Der macht eine ungeheure Wandlung durch. Der Mann ist natürlich nicht auf der Straße geboren, sondern er ist abgestürzt. Warum?
Er ist abgestürzt, weil er Pech hatte in der Liebe und weil er keinen Sinn mehr sah in seinem Job bei einer großen Bank. Er hat völlig die Perspektive verloren. Und er gewinnt sie neu durch die Begegnung mit dem Elefanten. Und durch die Tierärztin, bei der übrigens ebenfalls eine Entwicklung stattfindet Da steckt, man ahnt es schon, eine dicke Liebesgeschichte drin. Auch diese Ebene bedient Martin Suter in seinem Roman, wie es sich für einen guten Bestseller gehört.
Auch da meldet sich natürlich sofort der Kitschalarm: Eine zarte Liebesgeschichte muss da auch eingebaut werden. Aber dieser Strang ist nicht nur notwendig für die ganze Konstruktion, sondern auch inhaltlich vermittelt.
Obwohl es stark unter Kitschverdacht steht, ist es plausibel und funktioniert. Und das zeugt auch wieder von der großen Kunst von Martin Suter: herausragende, gute Unterhaltungsliteratur zu schreiben. Er schafft es, diese ganzen Ebenen plausibel zusammenzubringen. Es hat mich sehr beeindruckt, dass er mit mindestens vier verschiedenen Spannungssträngen erzählt. Es ist natürlich kein Kriminalroman, aber es hat Züge von einem Spannungsroman. Und die Art und Weise, wie hier Spannung aufgebaut wird und aufgelöst wird, das ist wirklich absolut souverän und völlig auf der Höhe der Zeit. Das hat mir sehr gut gefallen.
Er kann mit dem Mittel des Suspense hervorragend umgehen. Sprechen wir zuletzt auch noch über die Sprache, über diese "Suter-Parataxe". Kaum ein Wort ist zu viel, dann gibt es wieder altmodisch verzopfte Elemente. Schon sehr eigenwillig, oder?
Es bleibt manchmal auch eine gewisse Leere hinterher. Also speziell, wenn es um die Charaktere geht, ihre Geschichte und Herkunft. Das ist schon sehr "non-galant" und kurz hingehuscht Da würde man sich manchmal etwas mehr Dichte wünschen, auch sprachlich etwas mehr Genauigkeit.
Ich denke, das ist der Tatsache geschuldet, dass
Dieser Autor scheint unfassbar viele Ideen und Themen zu haben. Dann zaubert er eben mal schnell so einen Roman hin und nimmt sich offensichtlich weder Zeit noch Raum, um genauer zu werden. Vielleicht ist es aber auch seinem Stil geschuldet: Er legt auf die Charaktere keinen großen Wert, weil es ihm um die Themen geht.
Er ist schon dabei den nächsten Roman zu schreiben. Martin Suter ist ein eigenes Literatursystem. Da finde ich es ganz besonders wichtig immanent zu argumentieren, das haben wir jetzt getan.
Zum Abschluss stellt sich die Frage: Wie lässt sich der „Elefant“ in diesem großen Suter-System einordnen? Ein besserer, ein schwächerer Suter-Roman?
Eindeutig, ein sehr guter Unterhaltungsroman, also ein besserer. Mit kleinen, teils auch aus seinem Werk bekannten Schwächen, aber die kann man in diesem Fall gut gelaunt hinnehmen.
Da bin ich ganz Ihrer Meinung.