SWR2 Buch der Woche vom 23.12.2018

Erich Hackl: Am Seil

Stand
Autor/in
Carsten Otte

Erich Hackl erzählt in seinem neuen Werk „Am Seil“ von der Rettung zweier Jüdinnen in der Nazizeit.

Die Geschichte ist nicht nur historisch verbrieft, sondern auch literarisch versiert – und sollte wie so viele Bücher des österreichischen Schriftstellers in der Schule gelesen werden.

Eine Heldengeschichte im 20. Jahrhundert - geht das?

Im Grunde verstört schon die Genrebezeichnung. Was der 1954 im oberösterreichischen Steyr geborene Erich Hackl in seinem neuen Buch „Am Seil“ erzählt, soll eine „Heldengeschichte“ sein. Kaum ein Begriff erscheint nach den großen Brüchen in der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts so fragwürdig wie die Bezeichnung eines Menschen als Helden.

Zu oft wurden Mörder als Kriegshelden gefeiert, zu oft ließen sich Diktatoren einen Heldenstatus andichten, und auch heute lassen sich Großsprecher auf der politischen Bühne schnell mal feiern, als hätten sie Heldenhaftes geleistet.

Aus den Schriften der Antike kennen wir noch den Heros, der, wie es in einem Lexikon des 18. Jahrhunderts heißt, „von Natur mit einer ansehnlichen Gestalt und ausnehmender Leibesstärcke begabet, durch tapfere Thaten Ruhm erlanget, und sich über den gemeinen Stand derer Menschen erhoben.“

Auch weil aus dieser gewaltromantischen Idee eine blutrünstige Ideologie erwuchs, ist mit dem ganzen Heldengerede heute nichts mehr anzufangen.

„Am Seil“ basiert auf einer wahren Begebenheit

Jetzt aber kommt Hackl. Und erzählt tatsächlich eine Heldengeschichte. Weil es sie eben doch gegeben hat, und zwar im selbstlosen Widerstand gegen den Terror, und weil es sie vielleicht auch heute noch geben kann, denn das Grauen ist ja längst nicht vom Erdball verschwunden.

Hackls Heldengeschichte ist eine literarische Verneigung vor einem Mann, den es wirklich gegeben hat, nämlich Reinhold Duschka, einem Kunsthandwerker und begeisterten Bergsteiger, der in Wien zu Zeiten der Naziherrschaft zwei Jüdinnen das Leben gerettet hat. Dabei musste der Schriftsteller gar nicht lange nach seinem neuen Stoff suchen.

Denn die Geschichte war und ist seit einigen Jahren bekannt, wie nämlich Regina Steinig und ihre Tochter Lucia von eben jenem etwas verschrobenen und zugleich hundertprozentig aufrichtigen Duschka in seiner Werkstatt vier Jahre lang vor den braunen Schergen versteckt wurden, wie er sie mit Lebensmitteln versorgt, wie er sich um das Kind kümmerte und wie er nie ein Wort über seinen Mut verlor, weder vor noch nach 1945.

Die präzise Wortwahl raubt dem Leser den Atem

Es gab das Wiener und später in vielen europäischen Städten aufgeführte Theaterprojekt „Die letzten Zeugen“, in dessen Rahmen die Geschichte erzählt wird, es gibt Fernsehbeiträge und zahlreiche Videos im Netz, in denen die hochbetagte Lucia ihre Rettung erzählt – aber was Erich Hackl daraus macht, ist dennoch so außergewöhnlich und eigenständig, dass man bei der Lektüre zuweilen die Luft anhält, als stünde man tatsächlich auf einem Grat und schaute in den Abgrund, als wäre man nur gesichert durch Seil und Seilschaft.

Hackls literarisches Verfahren besteht darin, berührende Biographien in eine so präzise wie poetische Geschichtsprosa zu überführen. Kein Wort zu viel erlaubt sich der Erzähler, auf Sprachspielereien verzichtet er, und gerade deshalb sind die Szenen bildstark und anschaulich. Er wechselt übergangslos vom Ich zum Wir und dann in die dritte Person.

Passagen im Konjunktiv sind strikt von denen im Indikativ zu unterscheiden. Der Dichter bleibt penibler Chronist. Wenn er eine historische Leerstelle füllt, wird die Fiktionalisierung angesprochen. Diese Redlichkeit gehört zum literarischen Konzept, das Auskunft gibt über die Bedingungen des puristischen Erzählens. Manchmal verzichtet Hackl gar auf die Verben: „Wunde, die sich lange nicht schloss.“ Damit ist alles gesagt.

Berühmt geworden ist Hackl mit diesem in der deutschsprachigen Literatur einmaligen Stil. Die Erzählungen „Auroras Anlaß“ und „Abschied von Sidonie“ waren nicht nur Welterfolge, seine Werke gehören seit vielen Jahren zum Schulbuch-Kanon.

Der historische Stoff ist aktueller denn je

„Am Seil“ kreist im Kern um die Frage, warum gerade Reinhold Duschka zum Held wurde und was wir aus seiner Geschichte lernen können in Zeiten, in denen Menschen wieder Angst haben müssen vor dem rechtsradikalen Mob. Der Mann war weder ein politisch bewegter Zeitgenosse noch ein Heiliger. Er verführte Frauen und ließ sie ohne Erklärung sitzen.

Er war diszipliniert, aber nicht autoritär. Er war ein maulfauler Eigenbrötler, ein Angeber allerdings nicht. Er besaß wohl gute Menschenkenntnis. Alles Eigenschaften, ohne die er aufgeflogen wäre. Beim Klettern in den Bergen schien er sich wohlzufühlen. Oft war er am Seil mit Rudi Kraus verbunden, dem Vater der kleinen Lucia. Bis der nach Australien ging. Was für Regina Steinig im richtigen Moment nicht in Frage kam.

So blieben Mutter und Tochter in Wien, mussten bald zusehen, wie die Juden in der Nachbarschaft deportiert werden. Als Juden überleben zu wollen, war im NS-Regime lebensgefährlich, und zwar auch für die Helfer der Juden. In der Freundschaft von Rudi und Reinhold lässt sich vielleicht ein Motiv für Duschkas Mut finden, Regina und Lucias zu verstecken.

Nächstenliebe und Bergsteiger-Ethos

Möglicherweise hat der Bergsteiger aber auch nur das im prekären Alltag angewendet, was für ihn in höchsten Höhen selbstverständlich war: Der eine steht für den anderen ein.

Was für Duschka schließlich den Ausschlag gab, zwei Menschen vor dem sicheren Tod zu bewahren und damit das eigene zu riskieren, lässt der Text bewusst offen. Eine heimliche Liebe hegte der Retter nicht. Er war offenbar überzeugt, das Richtige zu tun. Er ging ein hohes Risiko ein, doch aufzufliegen, wenn er Nahrung und Klamotten nicht nur für sich organisierte.

Und nicht nur das, er schenkte seinen Schützlingen, die in der Werkstatt helfen durften, zudem ein seltenes Gefühl. Denn er band Mutter und Tochter ein in den „gesamten Herstellungsprozess“, gab „Ratschläge, keine Befehle“.

Eine Prise Humor rundet das Werk ab

Wie Hackl auf wenigen Seiten nicht nur die Geschichte Duschkas und die seiner Anvertrauten erzählt, sondern nahezu nebenbei auch das Leben von vermeintlichen Nebenfiguren, zeigt die große Meisterschaft des Autors.

Vor allem wenn es um Regina Steinigs „rätselhafte Abhängigkeit“ von einem treulosen Typen namens Fritz Hildebrandt ging, dem sie die Treue hielt, obwohl der „es fertiggebracht hat, Regina noch im Altersheim mit einer anderen Frau zu betrügen“.

Im Rückblick auf das Leben der Geretteten nach der NS-Zeit gestattet sich Hackl also auch mal einen Anflug von Humor, und so zeigt er in wenigen Sätzen, dass er alle Tonlagen beherrscht.   

So beeindruckt „Am Seil“ nicht nur mit literarischer Finesse, sondern räumt auch auf mit einer Heroen-Tradition, die noch immer ins Unglück geführt hat. Held ist heute nur, wer den Schwachen hilft. Heldentum und Narzissmus schließen sich aus.

Eine gute Lektüre für jede Jahreszeit

Und: Es gibt keine Anleitung für Heldentaten. Warum aber nicht ein Beispiel nehmen an einem Helden wie Reinhold Duschka, der sich gegen Ehrungen jahrzehntelang gewehrt und erst als Neunzigjähriger in der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem als „Gerechten unter den Völkern“ ausgezeichnet wurde?

Erich Hackls „Am Seil“ ist auch deshalb ein so berührender Text, weil er behutsam die historischen Leerstellen füllt. Er übertreibt nicht, findet aber dann doch hochemotionale Bilder für einzelne Szenen, wenn etwa die Bomben einschlagen in Duschkas Atelier.

Im Grunde ist dieser Text, der von Rettung und der frohen Botschaft der Geretteten handelt, auch als etwas andere Weihnachtsgeschichte zu lesen. Im Schulunterricht sollte dieses berührende Hackl-Werk auch gelesen werden – allerdings zu allen Jahreszeiten.

Stand
Autor/in
Carsten Otte