Buch der Woche vom 3.6.2018

Thorsten Nagelschmidt: Der Abfall der Herzen

Stand
Autor/in
Carolin Courts

Thorsten Nagelschmidts Roman „Der Abfall der Herzen“ ist eine wüst-originelle Coming-of-Age-Geschichte, die nebenbei die große Frage aufwirft, ob wir gut daran tun, uns unsere eigenen Biographien zu glauben. Es ist ein Roman mit starker Sogwirkung und voller plausibler, erfreulich andersartiger Figuren.

Früher Punkmusiker, heute Autor: Thorsten Nagelschmidt

Unter Punks gehört es zum guten Ton, nicht zu heißen, wie man heißt. Sondern etwa „Schocki“, „Zonk“ oder „Macke“. Auch „Nagel“ ist ein guter Punk-Name. Der Schriftsteller Thorsten Nagelschmidt war viele Jahre mit diesem Kurz-Pseudonym unterwegs, als Musiker, bildender Künstler und Autor. Nagelschmidt hat sich lange mit dem Punk und seiner Haltung zur Welt identifiziert, seine Band Muff Potter hat auch in den Anfangsjahren danach geklungen.

Aber jetzt beginnt für den Mann aus Rheine ein neuer Abschnitt. Die Band gibt es seit 2009 nicht mehr und Thorsten Nagelschmidts neuer Roman, „Der Abfall der Herzen“, ist mainstreamfähig – im besten Sinne.

Im Fokus stehen Themen, an denen jeder anknüpfen kann

Man hat das Buch noch gar nicht aufgeschlagen, da weiß man schon: Es ist eine Identifikationsgrube. Leser sinken hinein und haben gleich das wohlige Gefühl: „Ja, das kennen wir, so ungefähr hat sich das bei uns auch angefühlt.“ Was umso bemerkenswerter ist, als Thorsten Nagelschmidt hier Innenansichten aus einer Szene schildert, zu der Großteile seines Publikums nie gehört haben dürften.

Thorsten Nagelschmidt sagt dazu: „Das sind ja spezielle Jugendliche, über die ich da schreibe, die sind ja damals schon ein bisschen am Rande und wollen eigentlich auch mit den anderen Gleichaltrigen gar nichts zu tun haben. Die sind irgendwie Punk oder sind einfach so irgendwie lost; aber die Themen, um die es eigentlich geht, das sind Themen, die auch Leute ansprechen, die damit nichts zu tun haben. Also Freundschaft, Liebe, Erwachsenwerden, Verrat. Ich hoffe schon, dass andere Leute, die nicht dabei waren, auch ihre Anknüpfungspunkte finden.“

Die privaten Tagebücher bilden das Fundament des Romans

„Der Abfall der Herzen“ ist das erste Buch, auf dem Thorsten Nagelschmidts ganzer Name steht. Der Verfasser findet: Es war an der Zeit. Immerhin bilden seine eigenen, realen Tagebücher die Grundlage der Geschichte. Die spielt zu weiten Teilen im Sommer 1999, in der westfälischen Mittelstadt Rheine. Die übrigen Passagen zeigen den Protagonisten – auch er heißt Thorsten Nagelschmidt – im Jahr 2015. Gerade hat er die bewussten Tagebücher wiederentdeckt und wird von der Wirkung, die sie auf ihn haben, überrumpelt…

Die Gefühlsebene reißt den Leser mit

Immer wieder schaltet der Autor zwischen damals und heute hin- und her. So entstehen zwei Bilder nebeneinander. Das eine zeigt den Erwachsenen, den Künstler, der konzentriert an einem Projekt arbeitet. Das andere jenen jungen Mann, der von allen nur „Nagel“ gerufen wurde, der jahrelang in einer abgeranzten WG mit Freunden gelebt und eine Weile deutlich zu viel getrunken hat.

Die reine Handlungsebene des Sommers 99 erweist sich dabei als gar nicht so außergewöhnlich, es wird geküsst und rumgemacht, es gibt Drogen, Lügen, ausgespannte Freundinnen und gelegentlich Ärger mit der Polizei. Aber hier ist weniger tatsächlich mehr, denn die Gefühlsebene ist leuchtend und lebendig und muss nicht durch konstruiertes Drama aufgeblasen werden.

So sagt Nagelschmidt: „Mich nervt das oft als Leser, dass immer diese große Wendung [inszeniert wird] – und dann, natürlich muss der Tod noch reinkommen und so weiter. Ich glaube, dass man das gar nicht unbedingt braucht, wenn man weiß, wie man eine Geschichte erzählen möchte und eben sehr lange an dieser Sprache feilt.“

Nagelschmidt hat ein Auge für Details

Die Sprache von Thorsten Nagelschmidt fließt scheinbar ohne jedes Gewicht dahin. Manchmal zieht das Tempo an, dann wieder geht es gemächlicher zu, aber immer wirkt es, als sei dieser Text völlig mühelos entstanden. Sein Autor bekennt, dass das Gegenteil der Fall ist. Dass er selbst ein Detailversessener ist. Einer, der sich quälen muss, damit es am Ende so leichtfüßig klingt.

Thorsten Nagelschmidt sagt von sich selbst, dass er ein miserables Gedächtnis habe. Deshalb hat er seine realen Mitstreiter von damals in die Entstehung des Romans einbezogen und ihre jeweiligen Versionen der Ereignisse abgefragt. Das Buch ist also eine Art Destillat aus den Erinnerungen aller, aus einer Ära, die Facebook, Photoshop und mobiles Internet noch nicht kannte.

Lebendige Geschichten aus einer anderen Zeit

„Da läuft ganz viel über Oral History und das macht es eigentlich so spannend, weil die Geschichten aus der Zeit viel lebendiger sind, als wenn ich mich jetzt zum Beispiel für 2005 oder sowas interessiert hätte; da hätten, glaube ich, viele Leute sich eher zurückgehalten, weil sie wissen, okay, das ist überprüfbar, da gibt’s wahrscheinlich Fotos, da gibt es Mails, aber das hier ist wirklich nur unsere kleine Geschichte in unserer kleinen Stadt, und wir schreiben jetzt so die Geschichte, wie wir sie erzählen“, meint Thorsten Nagelschmidt.

Es gibt im Roman auch immer wieder Hinweise darauf, dass die geschilderten Ereignisse keineswegs den Anspruch erheben, der objektiven Wahrheit zu entsprechen. Alle Namen – bis auf seinen eigenen – hat Thorsten Nagelschmidt sowieso geändert – und was sonst noch alles? Das bleibt sein Geheimnis: „Wo beginnt die Verfälschung, oder wo beginnt die Fiktion, wo endet der Fakt – sind es nicht fließende Übergänge, die es da gibt? Es gibt einen schönen Satz von Hans-Magnus Enzensberger: ´Die Geschichte ist eine Erfindung, zu der die Wirklichkeit ihre Materialien liefert.` Ich finde, da steckt einfach viel drin, weil: Klar, bei manchen Sachen kann ich sagen, das ist passiert, das weiß ich, und das ist nicht passiert, das weiß ich noch, aber alles andere, und das ist der Großteil, bewegt sich in einem totalen Graubereich dazwischen.“

Ein Gegenentwurf zur Literatur des Bildungsbürgertums

Er wird damit leben müssen, die Frage nach der Wahrheit demnächst noch häufiger gestellt zu bekommen. Thorsten Nagelschmidt geht mit seinem Roman auf Lesereise. Er sagt, dass er sich auf die Bühne freut. Und, dass er nichts dagegen hätte, wenn „Der Abfall der Herzen“ unter „Popliteratur“ katalogisiert werden würde. Zwar weiß er selbst nicht so genau, wie da die aktuellen Definitionen lauten, aber er mutmaßt, dass es sich immer noch um eine Art Gegenentwurf zu den Werken des Bildungsbürgertums handeln könnte. Rotzig, nahbar. Insofern, schon in Ordnung!

Welches Etikett auch immer „Der Abfall der Herzen“ am Ende tragen wird: Es ist ein Roman mit starker Sogwirkung und voller plausibler, erfreulich andersartiger Figuren. Ein Buch, das witzig und kurzweilig und zugleich hintergründig ist, weil es – ohne aufdringliche Didaktik, fast beiläufig – genau die richtigen Fragen stellt.

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Autor/in
Carolin Courts