Der Preis für den längsten Buchtitel des Jahres geht schon einmal an den 1978 geborenen Saša Stanišić: „Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“. Das neue Buch des Autors, der 2019 mit seinem Roman „Herkunft“ den Deutschen Buchpreis gewonnen hat, hat keine Gattungsbezeichnung. Es ist eine Reihe von Erzählungen, die durch eine unsichtbare Klammer miteinander verbunden sind.
Ganz zu Beginn, in der Geschichte „Neue Heimat“, treffen sich einige Jugendliche an ihrem gewohnten Platz oberhalb der Weinberge, an denen auch die Hochhaussiedlung steht, in der sie aufwachsen. Man kennt dieses Setting aus früheren Stanišić-Büchern. Einer von ihnen, Fatih, hat eine Idee: Wie es denn wäre, fragt er, wenn es einen Proberaum für das Leben gäbe? Einen Ort, an dem man seine Zukunft voraussehen und dann entscheiden könnte, ob man sich einloggen möchte oder nicht.
Unter dieser Prämisse stehen dann die folgenden Erzählungen dieses raffinierten und vertrackten Buchs, das sich so leicht weglesen lässt in seinem sprachverspielten Ton: Da ist Dilek, die Putzfrau, in deren Leben plötzlich die Zeit für einen Augenblick stillsteht und sie zurückfällt in die Welt ihrer Erinnerungen. Oder Georg, der tatsächlich mit dem Gedanken spielt, sein Kind beim Memory zu betrügen und dem in seinem Panini-Sammelalbum nur noch der Sticker von Miroslav Klose fehlt.
Was bestimmt diese Biografien? Sind es eigene Entscheidungen? Ist es der Zufall? Spielerisch, aber grundiert von existentiellem Ernst, schickt Stanišić seine Leser vom Probe- in den Möglichkeitsraum der Literatur.