Die Übersetzerin und Schriftstellerin Esther Kinsky ist eine der aufmerksamsten, subtilsten und poetischsten Beobachterinnen von Landschaften. „Geländeroman“ hieß das Buch, für das sie 2020 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde. In „Rombo“, ihrem im vergangenen Jahr erschienenen Roman fing Kinsky auf unterschiedlichen sprachlichen, zeitlichen und erzählerischen Ebenen die großen Erdbeben und deren Vorwehen ein, die im Jahr 1976 das Resiatal im italienischen Friaul erschütterten und bei denen knapp 50 000 Menschen ihre Häuser verloren.
Im neuen Prosawerk „Weiter Sehen“ trifft die Erzählerin in Norwegen zunächst eine Frau, die vor dem Krieg aus Jugoslawien geflohen ist. Die beiden sitzen auf einer Bank und schauen gemeinsam in einen dunklen Fjord, als die Unbekannte von einer Landschaft ganz ohne Hügel zu erzählen beginnt. Diese „märchenhaft anmutende Flachheit“ scheint Esther Kinsky nicht mehr aus dem Kopf gegangen zu sein, weil das Sehen und Erkennen im geographischen, kulturellen und historisch-politischen Raum ohnehin eines ihrer wichtigsten Themen ist. Also fährt Kinsky – vermutlich kurz nach dem Jahrtausendwechsel – in die Pannonische Tiefebene, ein staubiges Grenzgebiet, das sich über viele Länder erstreckt, nämlich Ungarn, Österreich, die Slowakei, Slowenien, Rumänien, Serbien, Kroatien und die Ukraine.
Von Budapest kommend, erkundet die Erzählerin eine Gegend, die sie als „Landschaft der Leere“ beschreibt und deren Natur so eindrucksvoll wie eintönig ist. Von dort aus entwickelt sich „Weiter Sehen“ zu einer melancholischen Geschichte über das Kino, denn die Erzählerin kauft ein verwittertes Lichtspielhaus, um ihm neues Leben einzuhauchen. So ist dieses Buch dreierlei: Eine grandiose Landschaftsbeschreibung, ein präzise gezeichnetes Figurenkabinett und ein Abgesang auf eine Kulturtechnik.