Chicago, 5. November, später Abend. Anna Camaiti Hostert ist bei Freunden, alle Demokraten, und verfolgt die ersten Wahlergebnisse im Fernsehen: Trump wird der neue Präsident der Vereinigten Staaten. „Wir hatten wirklich die Hoffnung, dass Harris es schafft“, erzählt sie am Telefon.
Die italienisch-amerikanische Philosophin und Journalistin lebt seit über 30 Jahren in den USA und hat sich intensiv mit der Figur Trump auseinandergesetzt. Camaiti Hostert sieht beispielsweise viele Ähnlichkeiten zwischen Mussolini und Trump.
Ihr letztes Buch „Trump and Mussolini: Images, Fake News, and Mass Media as Weapons in the Hands of Two Populists“, geschrieben zusammen mit dem Dokumentaristen und Autor Enzo Antonio Cecchino, zieht Parallelen zwischen beiden Männern und beleuchtet die Gefährlichkeit von Trumps Politikführung.
Serien haben die Ära Trump vorhergesehen
2017 erschien ihr Buch „Trump non è una fiction“ – bislang nur auf Italienisch. Darin untersucht Camaiti Hostert, wie amerikanische Fernsehserien soziale und politische Phänomene der USA widerspiegeln.
„TV-Serien sind ein aufschlussreicher Test des amerikanischen sozialen Gefüges“, sagt sie, weil Serien durch komplexe Handlungen und facettenreiche Charaktere die Widersprüche der amerikanischen Gesellschaft darstellen und so die Ära Trump vorhergesagt hätten.
Der Spiegel der Realität
Ein Beispiel sei die Serie „Justified“ (2010-2015), deren Handlung in Kentucky spielt. „Sie zeigt, wie in den Südstaaten eine trostlose, arme und rassistische Realität existiert, der es an Anreizen fehlt, sich zu verbessern.“
Camaiti Hostert betrachtet Serien nicht nur als Unterhaltung, sondern auch als Spiegel der Realität. Serien seien in der Lage, die sozialen Spannungen, politischen Entwicklungen und die Auswirkungen neuer Technologien tiefgreifend darzustellen.
Die Veränderung unserer Epoche fotografieren
In dieser Perspektive übertreffen TV-Serien sowohl das Kino als auch die Literatur in ihrer Fähigkeit, die Bedeutungen und Veränderungen unserer Epoche zu interpretieren und zu vermitteln. Sie können soziale Probleme in einem fortlaufenden und sich entwickelnden Format darstellen – ähnlich wie die Realität selbst.
Serien können manchmal sogar die Realität vorwegnehmen, wie in „House of Cards“ (2013-2018), in der der skrupellose Aufstieg von Francis Underwood und seiner Frau Claire ins Weiße Haus erzählt wird. Eine Staffel endet mit einem Gespräch zwischen den beiden, in dem sie die Angst als einzigen Weg sehen, um das Land auf sich auszurichten.
Die Strategie Trumps
„Das ist genau die Strategie Trumps gewesen“, sagt die Philosophin, der in diesen Jahren und besonders im Verlauf dieses Wahlkampfs mit der Angst der Leute gespielt habe. Genauso wie bei seinem Versprechen, eine sehr harte Migrationspolitik zu betreiben.
„In diesem Sinne haben die Serien den Geist des Landes vorausgesehen und erzählt, wie es sich auf das vorbereitet hat, was heute letztendlich passiert ist.“
Durch die Vergangenheit die Gegenwart erzählen
Trump habe Aspekte wie den Rassismus und die Misogynie, die im Untergrund der amerikanischen Gesellschaft schlummerten und vorhanden waren, aufgedeckt und an die Oberfläche gebracht, erklärt Camaiti Hostert.
Die Serie „Mad Men“ sei beispielhaft für das, was Amerika immer gekennzeichnet habe: „Die Charaktere haben keine Angst vor dem Neuen und zeigen dafür Offenheit.“ „Mad Men“ erzählt das Leben und die Dynamik einer Werbeagentur in den 1960er Jahren in New York.
Amerika ist immer eine offenere Gesellschaft gewesen
Obwohl die Serie in der Vergangenheit spielt, zeige „Mad Men“ die Widersprüche der heutigen Gesellschaft. Themen wie Misogynie, Rassismus und Homophobie sind stark präsent aber auch Konsumismus, Identität und die Rolle der Geschlechter, die in einer sich wandelnden Gesellschaft erforscht werden.
Dennoch gebe es Charaktere wie die Hauptfigur Don Draper, die gewissermaßen die gesamte Gesellschaft erlösen. Sie zeigen Toleranz und fürchten sich nicht vor Veränderungen.
„Genau das hat die Hoffnung auf eine offenere und inklusivere amerikanische Gesellschaft genährt“, sagt sie. In dem Amerika Trumps entwickle sich das Land jedoch in eine ganz andere Richtung.
„Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir"
„Die Fernsehserien sind vielleicht der wahre Ausdruck unserer Zeit“, schrieb der italienische Fernsehkritiker Aldo Grasso – und darauf baut Camaiti auf.
Sie schreibt, dass TV-Serien bereits Aspekte der amerikanischen Gesellschaft abgebildet haben, die dazu geführt haben, dass Trump einmal und ja – zum zweiten Mal gewählt wurde.
Zum Schluss des Telefonats zitiert Anna Camaiti Hostert den Satz aus der Abschiedsrede von Kamala Harris nach der Niederlage bei der US-Präsidentschaftswahl. Harris erwähnt ein altes Sprichwort: Nur wenn es dunkel genug ist, könne man die Sterne am Himmel sehen.
Dabei musste die Philosophin an den Satz Kants denken: „Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir.“ Und wenn sie jetzt auf die Zukunft Amerikas blicke, sagt sie: „So will ich versuchen, es auch zu sehen.“