SWR: Ilija Trojanow, gehen Sie wählen?
Ilija Trojanow: Nein, dieses Jahr nicht. Aber aus dem ganz einfachen Grund, dass ich nicht daheim bin und vergessen habe, frühzeitig den Wahlzettel anzufordern.
SWR: Die Tücken des Alltags …
Ilija Trojanow: … ich bin viel unterwegs, das ist manchmal schwierig.
Warum noch wählen? Talk mit überzeugten Demokraten im SWR Studio Freiburg
Was es bedeutet, Europäer zu sein
SWR: Wann fühlen Sie sich denn als Europäer? Oder fühlen Sie sich überhaupt so?
Ilja Trojanow: Naja, ganz einfach: Man fühlt sich dann als Europäer, wenn es einen Raum gibt, der größer als Europa ist …
SWR: … wenn man unterwegs ist?
Ilija Trojanow: Wenn man unterwegs ist, ja. Wenn es nur Europa gäbe, dann würden wir jetzt nicht diskutieren. Das heißt, Europa ergibt eigentlich immer nur dann Sinn als Thema, als Herausforderung, als Ideal oder als Mythos, wenn es um seine Grenzen geht. Und Grenzen nicht nur territorial verstanden, sondern auch im Sinne von: Wofür stehen wir? Was ist unsere Geschichte, unsere Tradition, unsere Vision? An der Stelle beginnt das Gespräch.
Gibt es so etwas wie europäische Werte?
SWR: Dann lassen Sie uns mal darüber sprechen, denn zur Geschichte und zur Tradition gehört ja auch, dass die EU sich Werte gegeben hat: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Freiheit, Menschenrechte, Menschenwürde. Das kommt aber alles in diesem Wahlkampf nicht vor. Der ist vielmehr aufgeladen mit Warnungen vor dem Ende Europas oder dem Ende der EU oder dem Triumph der extremen Rechten. Das mag ja alles stimmen, aber diese negativen Definitionen führen ja nicht unbedingt dazu, etwas gerne zu sein oder etwas sein zu wollen, oder?
Ilija Trojanow: Ich glaube, wir sollten uns von der Parteipolitik emanzipieren, wie sie gerade im Wahlkampf stattfindet. Ich habe gerade einen Text gelesen von einer großen europäischen Visionärin, der Französin Simone Veil. Und in diesem Text fordert sie, dass man politische Parteien abschaffen soll, weil diese eigentlich – und da war sie sehr visionär – eine Art tribalistische Politik einfordern. Das bedeutet, man muss immer Partei nehmen – das Wort sagt es ja schon.
Lassen Sie uns also lieber auf das schauen, was in der Verfassung steht. Sie haben die Menschenwürde erwähnt. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – das ist nicht nur der erste Satz des Grundgesetzes, das steht so auch in der europäischen Menschenrechtscharta. Und es ist ein Satz, den wir nicht in den Niederungen der Parteipolitik aus den Augen verlieren sollten, weil er von den Idealen spricht, denen wir noch entsprechen müssen.
Das Schöne an Europa ist ja, dass es immer wieder Träume formuliert hat, Träume davon mehr zu sein, als es ist; und dass Europa auch eine Geschichte der selbstkritischen Analyse hat. Darin liegen für mich eigentlich die grundsätzlichen, essenziellen Fragen, wenn wir versuchen, Europa zu definieren.
Wunsch und Wirklichkeit liegen in der EU oft auseinander
SWR: Wovon wir träumen und inwieweit unsere Träume schon Wirklichkeit sind?
Ilija Trojanow: Genau. Ein Satz, der ja häufig bemüht wird, ist die Rede von Einheit in der Vielfalt. Das ist für mich eigentlich so eine Art Definition von Freiheit. Freiheit wäre, dass es einen gemeinsamen Rahmen gibt, wir aber alle so unterschiedlich sein können, wie wir wollen. Die Wahlkampfpropaganda aus der nationalistischen Ecke versucht genau das zu negieren. Da wird dann so getan, als gäbe es eine klare Ideologie – und das kann es in einem lebendigen, freien Europa einfach nicht geben.
SWR: Wie ist denn das Verhältnis von Identität und Identifikation? Ist es für das Überleben der EU als politisches Projekt nicht entscheidend, dass wir uns mit ihr identifizieren?
Ilija Trojanow: Identisch ist das, was gleich bleibt. Das schließt eine visionäre Dynamik völlig aus. Ich glaube nicht, dass wir 350 Millionen Wahlberechtigte in irgendeiner Weise einfrieren wollen. Ich glaube, es geht weniger darum zu definieren, was uns eint, sondern eher darum zu definieren, wonach wir streben wollen: Was wäre ein mehrheitsfähiges Projekt der gesellschaftlichen Verbesserung?
SWR: Darin liegt ja diese seltsame Spaltung zwischen dem, was wir anstreben und dem, was wir sind. Sie haben das in einem Artikel mal „Jekyll und Hyde-Europa“ genannt: Wir Europäer wären so gerne gut, aber wir können uns irgendwie nicht dazu durchringen im Alltag …
Ilija Trojanow: Wir haben beides in uns! Das tolle an dem Bild von Jekyll und Hyde ist ja, dass die zwei Figuren sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern tatsächlich zwei Seiten einer Medaille sind. Ich glaube nicht, dass wir die Aufklärung in Bausch und Bogen verdammen können und auch nicht die Idee universeller Menschenrechte.
Gleichzeitig aber gibt es ein Europa des Eigennutzes und der Ausbeutung. Und das bis zum heutigen Tag. Ich meine etwa die extrem aggressive Haltung gegenüber dem globalen Süden. Das ist ein essenzieller Teil unserer Geschichte und Gegenwart. Und diese Schizophrenie erleben wir auf allen Ebenen europäischen Handelns.
SWR: Das macht ja auch diesen Aufruf, sich mit Europa zu identifizieren so schwierig, oder? Denn ich würde zum Beispiel nicht sagen, dass ich mich mit den europäischen Außengrenzen identifiziere oder mit Moria. Trotzdem muss ich anerkennen, dass auch das zu Europa gehört.
Ilija Trojanow: Das sehe ich genauso. Und ich finde diese Frage auch wirklich nicht praktikabel, weil die EU ja immer größer wird. Und in dem Moment, in dem es Beitrittskandidaten aus dem Westbalkan gibt, aus Südosteuropa, wird sich unsere Identität wieder verändern.
Und dann stellen sich wieder neue Fragen. Beispielsweise: Gehört der Islam zu Europa? Klammert man Südosteuropa und Spanien aus, dann kann man tatsächlich sagen, dass der Islam hier kaum eine Wirkung entfaltet hat. Aber wenn wir Südspanien und den Balkan dazunehmen, dann muss man einfach anerkennen, dass der Islam seit tausend Jahren ein integraler, ein wichtiger Teil von Europa ist. Das bedeutet, in dem Moment, in dem Europa nicht stillsteht, sich erweitert oder sich neu definiert, wird die Frage der Identität neu gestellt. Und was soll es bringen, jedes Jahr über eine neue Identität zu diskutieren?
Sieht man an den Rändern der EU klarer?
SWR: Lassen Sie uns mal an die Ränder Europas gucken, denn vielleicht ist es ja leichter, von dort ein gemeinsames europäisches Projekt anzuvisieren. Schauen wir etwa nach Georgien und die Menschen, die dort gerade auf die Straße gehen, die sich einen EU-Beitritt wünschen. Die Ukraine wäre auch ein Beispiel. Gibt es an den sogenannten Rändern vielleicht ein besseres Verständnis dafür, was Europa sein oder erreichen könnte?
Ilija Trojanow: Es gibt größere Hoffnungen und größere Enttäuschungen. Das Land, aus dem ich ursprünglich stamme, Bulgarien, hatte eine sehr proeuropäische Jugend. Dann wurde es Mitglied der EU und man hat festgestellt, dass das nicht zu einer wesentlichen Demokratisierung des Landes geführt hat, sondern dass die vielen EU-Hilfen eher so etwas wie eine Subvention für die lokale Mafia oder für die lokale Oligarchie waren. Und dann kam die Enttäuschung, die wiederum dazu führt, dass immer mehr vor allem junge Bulgarinnen versuchen, das Land zu verlassen. Die Bevölkerung ist von ungefähr neun auf etwas mehr als sechs Millionen geschrumpft. Und ich glaube, dass das ähnlich ist bei den Ländern, die noch nicht beigetreten sind wie Georgien oder die Ukraine.
Aber zu Georgien fällt mir noch etwas anderes sein. Das einzige, was ich tatsächlich als europäische Identität akzeptieren würde, wäre Wein. Ich glaube, dass entweder in Georgien oder in Armenien zum ersten Mal Wein angebaut und verarbeitet wurde. Und der ist ja tatsächlich ein Begleiter der europäischen Kultur. Wenn man die Steinterrassen an der Mosel in der Wachau oder in Nordwestspanien betrachtet, dann sieht man, dass die als Kulturlandschaft eigentlich Spiegelbilder voneinander sind. Das und die Art und Weise, wie wir den Wein in unsere tägliche Kultur einbinden – das sind tatsächlich Sachen, die uns verbinden.
SWR: Das heißt, mit der Osterweiterung kommen wir eigentlich näher an unsere Wurzeln heran?
Ilija Trojanow: Was den Wein betrifft absolut! Es wird dann eine EU Kommission geben müssen, die entscheidet, ob Armenien oder Georgien den älteren Anspruch haben …
SWR: Und wer dann sein Siegel drauf machen darf …
Ilija Trojanow: Genau … ältester Wein der Welt [lacht].
Ohne Selbstkritik geht es nicht
SWR: Wer da außen vor bleibt, ist die Türkei. Dort gibt es nicht so richtig einen lokalen, einen einheimischen Weinmarkt. Aber gleichzeitig ist die Türkei ja auch das Land, in dem sich am besten spiegelt, was passiert, wenn die Hoffnungen auf einen Beitritt enttäuscht werden. Wir haben eine extrem proeuropäische Bevölkerung, die aber immer vor der Tür gehalten wird und die sich mittlerweile zumindest in Teilen abwendet, weil sie nicht mal mehr Visa bekommt für die EU, geschweige denn für Deutschland. Und das obwohl hier so viele Menschen leben, die türkische Wurzeln haben, die Familien in der Türkei haben, die vielleicht einfach gerne ihre Verwandten mal zu Besuch hätten. Ist die Türkei so etwas wie der Worst Case?
Ilija Trojanow: Naja, der Worst Case ist natürlich Libyen. Wir dürfen das nicht vergessen. Und ich finde das eine Schande, dass wir daran beteiligt waren, dieses Land zu bombardieren, um den dortigen Diktator zu verjagen. Das war natürlich gut. Aber das Land wurde dadurch in einen Bürgerkrieg gestürzt, der bis zum heutigen Tag andauert und die Art und Weise, wie in Libyen hunderttausende Flüchtlinge behandelt werden – das ist jenseits jeglicher Barbarei. Das ist absolut grauenvoll und und erschreckend.
Ich glaube, dass Europa eigentlich dann am stärksten ist, wenn es eine kritische Erinnerungskultur pflegt. Weltweit haben mir ganz viele Leute gesagt, dass sie Deutschland bewundern, weil es als eines der wenigen Länder in der Menschheitsgeschichte einen zumindest teilweise sehr ernsthaften Versuch der Vergangenheitsbewältigung unternommen hat. Das tun wir manchmal wie bei der Shoa zum Beispiel. Wir versuchen das jetzt auch mit Blick auf die kolonialen Verbrechen Europas.
Wählen ab 16: „Ich denke, es ist die erste wichtige Entscheidung ...“
Aber bei Libyen schweigen wir. Es gibt keine Analyse unserer Fehler. Es fehlt die Frage, was wir daraus lernen können. Inwieweit sind die vielen Flüchtlingsströme auch Folge unserer falschen Außenpolitik? Ich glaube, die Frage nach der eigenen Identität dient auch der Selbstimmunisierung. Man stellt sie, um nicht darüber reden zu müssen, dass wir auch sehr viele Krisen verursacht und sehr viel Blut an den Händen haben. Ich glaube aber, ein zivilisiertes Europa muss sich immer wieder diesen Fragen stellen.