Der Mediziner Karl Horst Marquart hat ein Buch über Kinder geschrieben, die in Stuttgart der NS-Zwangsarbeit zum Opfer fielen – insgesamt mehr als 230. Sieben von ihnen starben als Babys im damaligen Lager Haldenwies, heute Jugendfarm Möhringen. Dort sind bis heute unterirdische Gräben erhalten, in denen hunderte Zwangsarbeiter bei Luftangriffen Schutz suchten.
Ein Bunker auf einer Jugendfarm
Die Jugendfarm Möhringen ist ein Paradies. Zwischen spielenden Kindern trotten Pferde zur Koppel, Hühner und Gänse scharren und schnattern, sattes Grün spendet Schatten für selbst gebaute Klettergerüste und Buden – so weit, so schön, und so normal.
Es gibt hier aber noch eine Attraktion, die absolut einmalig ist für eine Jugendfarm: unterirdische Gänge, gekennzeichnet mit einem Schild, dessen fröhlich-krakelige Handschrift so gar nicht zu dem Wort passt, das da steht: Bunker.
Die Jugendlichen wissen Bescheid über die Geschichte des Ortes
„Der Bunker, der wird auch von den Kindern bespielt, da gibt es so eine Art Mutprobe, dann gehen sie runter, und dann kriechen die hier im Dunkeln durch, und hoffen, dass sie wieder rauskommen. Sehr aufregend, wenn man so zehn Jahre alt ist.“ schildert Antje Fydrich, Mitarbeiterin der Jugendfarm.
Sie und die Schützlinge gehen unbeschwert mit dem Bunker um – nicht, obwohl er ein Relikt des Krieges ist, sondern weil alle sehr genau Bescheid wissen über die Vorgeschichte des Areals.
Im Zweiten Weltkrieg war hier auf dem Flurstück „Haldenwies“ ein Barackenlager für hunderte Zwangsarbeiter aus der Ukraine; Männer, Frauen und Kinder. Mindestens sieben Babys starben hier elendig, seit einigen Jahren erinnern Stolpersteine daran, mitten im Eingang zur Farm.
Elisabeth Marquart interessierte sich schon immer für die Historie des Ortes
„Wir haben ja auch eine umfangreiche Dokumentation gemacht damals, als die Stolpersteine verlegt wurden; war ja auch Elisabeth Marquart beteiligt, und das haben wir zusammen mit Jugendlichen von der Jugendfarm gemacht. Also denen ist das schon bewusst, was hier war und was hier passiert ist.“
Elisabeth Marquart gehört zu den Gründerinnen der Jugendfarm, sie hat sich immer auch für die Historie der Ortes interessiert. Nach dem Krieg waren die Baracken von Flüchtlingen und Ausgebombten bewohnt, aber niemand konnte oder wollte sich entsinnen, wozu sie ursprünglich errichtet worden waren.
Zwangsarbeit mit einem seltenen Privileg
Nun hat der Ehemann von Elisabeth Marquart, Karl-Horst Marquart, ein Buch zum Thema publiziert. Es befasst sich mit den wehrlosesten Opfern der mörderischen Zwangsarbeit – den Kindern der Stuttgarter Lager.
„Die Kinder waren recht- und schutzlos und starben an nicht behandelten Infektionskrankheiten und durch Unterernährung. Neugeborenen und Kleinkindern bis zu zwei Jahren wurde praktisch das Existenzrecht abgesprochen“, so der Autor.
Ab dem Alter von zehn mussten die Haldenwies-Kinder Zwangsarbeit leisten, beim Wegräumen von Trümmern nach Bombenangriffen. Fanden solche Angriffe in der Nähe statt, hatten die Haldenwieser ein seltenes Privileg.
Anders als die meisten anderen Zwangsarbeiter durften sie unterirdische Schutzgräben aufsuchen.
Kinder starben durch Vernachlässigung
Ein direkter Treffer hätte die dünne Decke des Bunkers durchbrochen und viele der Insassen getötet, aber hier in Haldenwies passierte das nicht. Allerdings sorgten die Nazis dafür, dass ihre Opfer auch anderweitig ums Leben kamen.
Karl Horst Marquart hat recherchiert, dass von 1943 - 1945 allein in Stuttgart über 230 Zwangsarbeiter-Kinder starben, meist an systematischer Vernachlässigung.
Ein Paradies mit teuflischer Vergangenheit
Für das Lager Haldenwies und seine Toten war die Kommune ganz unmittelbar verantwortlich, denn Arbeitgeber – oder besser: Ausbeuter – der Internierten war das städtische Tiefbauamt.
Verschütt ging der unterirdische Tatort nur deshalb nicht, weil die Jugendfarm ihn nutzt; erforscht hat ihn nun ein Privatmann. Es wäre Zeit, dass auch die Stadt dabei hilft, diesen einmaligen Ort zu erhalten, damit in Erinnerung bleibt, was er ist: ein Paradies mit teuflischer Vergangenheit.