Rund 250 Kinder suchen sich einen Sitzplatz im Forum Daun. Als das Licht ausgeht und die Scheinwerfer an, sind sie aber schlagartig ruhig und schauen Richtung Bühne. Denn sie wissen, dass es heute beim Theaterstück "Trau dich" um ein ernstes Thema geht: um sexuellen Missbrauch.
Es ist schwieriger Stoff für Sechstklässler. Und deshalb steigen die Schauspieler des Frankfurter Schultheaters nicht sofort ins Thema ein. Sie spielen erstmal Musik und tanzen. Die Kinder lachen, die Stimmung lockert sich auf. Und fast ist der ernste Hintergrund der Aufführung vergessen.
102 Fälle vom sexuellem Missbrauch in der Region Trier 2022
"Wir wissen, dass im Publikum im Schnitt zehn Kinder sitzen, die von sexuellem Missbrauch betroffen sind", sagt der Schauspieler Karl Kiesel. Das geht aus der Statistik der Weltgesundheitsorganisation hervor. Und auch in der Region Trier zählt die Polizei jedes Jahr rund 100 Fälle von Kindesmissbrauch. 102 waren es 2022, im Jahr davor waren es 132. Und das sind nur die Fälle, die den Ermittlern bekannt werden.
"Viele Taten werden aber gar nicht zur Anzeige gebracht", sagt Eva Pestemer vom Kinderschutzdienst der Caritas Westeifel. Auch, weil die Täter oft aus dem Bekanntenkreis oder der Verwandtschaft stammen, aus dem Sportverein oder der Schule. Und Kinder sich dann nicht trauen, darüber zu reden, was ihnen passiert ist - aus Angst oder auch aus Scham. Der Caritasverband Westeifel hat im vergangenen Jahr nach eigenen Angaben rund 40 Kinder längerfristig begleitet, die sexuelle Gewalt erfahren haben. "Unser Antrieb ist es, diesen Kindern Mut zu machen", sagt Schauspieler Kiesel: "Und wir wissen, dass nach unseren Aufführungen immer mehr Anrufe bei den Beratungsstellen eingehen." Ein Erfolg, findet der Frankfurter.
Schauspieler spielen Opfer und Täter
Auf der Bühne schlüpfen die vier Schauspieler dann abwechselnd in die Rollen von Kindern. Da ist zum Beispiel Paula, die von ihrer Freundin gedrängt wird, einen Jungen zu küssen, oder Vladimir, der nicht mehr von seiner Oma geknuddelt werden will. Die dramatischste der vier Geschichten ist aber der Fall von Alina. Sie wird von dem Freund ihrer Schwester angefasst, der von Karl Kiesel gespielt wird.
Keine leichte Aufgabe. "Aber meine eigene Gefühlswelt ist da nicht auf der Bühne", erklärt Kiesel. Und auch der Missbrauch wird nicht dargestellt. Das Mädchen Alina - gespielt von Jana Saxler - berichtet aus ihrer Sicht, was ihr widerfahren ist. Und von ihrem Dilemma: Soll sie es ihren Eltern und ihrer Schwester erzählen oder nicht?
Abwechslung zwischen dramatischen Szenen, Musik und Witz
Zwischen diesen eher beklemmenden Szenen spielen die Schauspieler immer wieder Musik. Es gibt auch witzige Szenen und wenn die Figuren mal nicht weiterwissen, fragen sie die Kinder. Die haben was gelernt, sagen sie. "Ich fands sehr spannend. Man weiß jetzt, was man macht, wenn etwas passiert", sagt ein Schüler der Schule am Pulvermaar in Gillenfeld. Eine Klassenkameradin ergänzt: "Die Situationen wurden auch gut dargestellt.“
Zum Beispiel von Nora Kühnlein, die heute zum ersten Mal für "Trau dich" auf der Bühne steht. Warum die Frankfurter Schauspielerin unbedingt mitmachen wollte? "Weil das Stück so intelligent geschrieben ist", sagt Kühnlein. Die Sprache sei kindgerecht, "aber auch kein Heitieteiti". Und komme deswegen auch so gut an.
Schauspieler: "Kinder merken sofort, wenn man unehrlich spielt"
"Kinder merken es sofort, wenn man unehrlich spielt", sagt Kollege Karl Kiesel: "Und das ist auch das Schöne beim Kindertheater. Die lehnen sich nicht zurück wie normales Theaterpublikum, sondern reagieren sofort darauf, was wir auf der Bühne machen."
Die Inszenierung von "Trau dich" stammt vom Schweizer Künstlerkollektiv "Kompanie Kopfstand". 2013 hat die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung das Theaterstück auf den Weg gebracht, das seitdem von verschiedenen Ensembles in ganz Deutschland aufgeführt und hierzulande auch vom Land Rheinland-Pfalz finanziert wird.
Lehrer und Sozialarbeiter haben Kinder auf Aufführung vorbereitet
Trotzdem musste auch vor Ort einiges organisiert werden. Elternabende, Fortbildungen für Lehrer und auch vorbereitender Unterricht für die Schüler. Damit diese vom Stück nicht überfordert werden, hat Schulsozialarbeiterin Anne Schmitz ihren Schülern zum Beispiel erklärt, was sie zu sehen bekommen. Und auch: Wie sie sich selbst verhalten können, wenn sie Zeuge oder Opfer von Missbrauch werden. "Trotzdem", sagt Schmitz: "Ich kann den Kindern viel erzählen und auch viele Übungen mit ihnen machen. Aber es ist nochmal was ganz anderes, wenn sie es hier mit Haut und Haaren miterleben können.“
Kreis Vulkaneifel will das Ensemble wieder einladen
Nach gut 70 Minuten ist das Stück dann vorbei. Die Kinder haben trotz der Länge zugehört. Unruhe ist im Raum nicht aufgekommen. Vielleicht auch deswegen, weil die Aufführung in vier Geschichten aufgeteilt ist, die alle gut ausgehen. Die Figuren können ihre Probleme lösen.
Auch Alina erzählt ihrer großen Schwester von dem Missbrauch. Es ist ein erster Schritt, den viele Kinder im echten Leben nicht gehen. Um ihnen weiter Kraft zu geben, über ihre Erfahrungen zu reden, will das Frankfurter Ensemble bald wieder nach Rheinland-Pfalz zurückkehren. Auch Hendrik Müller, Kreisjugendpfleger in der Vulkaneifel, sagt: "Es ist wichtig, immer wieder für das Thema zu sensibilisieren. Wir können uns gut vorstellen, die Schauspieler in den nächsten Jahren noch einmal nach Daun einzuladen."