Eigentlich wurden Kinder und Jugendliche in Kinderkurheime geschickt, um sich zu erholen. Viele kehrten aber mit schlechten, zum Teil traumatischen Erinnerungen wieder nach Hause zurück. So wie Barbara Thomas, die heute in Münster lebt. Sie ist 72 Jahre alt, doch noch immer erinnert sie sich sehr genau an das, was sie im Kinderkurheim Allerheiligen im Schwarzwald erlebt hat. Sie war zwischen acht und zehn Jahre alt, genau kann sie es nicht mehr sagen. Ihre Eltern hatten sie in Absprache mit dem Arzt zur Kur geschickt, weil sie Probleme mit der Lunge hatte und sehr dünn war.
Zeitzeugen berichten von Einschüchterungen und Gewalt
Was Barbara Thomas in dem Caritas-Haus erleben musste, lässt sie bis heute nicht los. Alle Kinder seien zum Essen gezwungen worden, erzählt die Zeitzeugin. Sie erinnert sich an eine Suppe, die so ungenießbar gewesen sei, dass Kinder sich vor Ekel hätten übergeben müssen. Dann seien sie gezwungen worden, das Erbrochene zu essen.
Auch die Erinnerungen an die Nächte in der Kur schmerzen die 72-Jährige: Den Kindern sei es nicht erlaubt gewesen, auf die Toilette zu gehen - viele Kinder hätten deshalb eingenässt - und seien dafür wiederum bestraft oder vor allen bloßgestellt worden.
Etwa 20 Betroffene für die Caritas-Studie befragt
Die Studie, die der Caritasverband des Bistums Mainz in Auftrag gegeben und am Dienstag vorgestellt hat, untersuchte zwei Einrichtungen: das Kinderkurheim Allerheiligen im Schwarzwald und die Kinderheilstätte St. Josef in Bad Nauheim in Hessen. Für beide Einrichtungen war der Mainzer Caritasverband jahrzehntelang verantwortlich.
In beiden Heimen habe es systematischen Zwang, Demütigungen und Gewalt gegeben, so das Ergebnis der Untersuchung. Etwa 20 Zeitzeugen hätten das übereinstimmend ausgesagt. Es habe auch Fälle von sexuellem Missbrauch gegeben, wie eine andere Studie des Bistums Mainz gezeigt hat.
Kinder wurden in Heimen zum Schweigen gebracht
Kinder und Jugendliche in solche Kuren zu schicken, war sehr verbreitet in Deutschland - zwischen 1950 und 1970 wurden nach Angaben des Caritasverbands zwischen acht und zwölf Millionen Kinder "verschickt", wie es damals hieß. Verschrieben wurden die Kuren meist von Hausärzten oder von Jugend- und Gesundheitsämtern.
Eltern hätten tatsächlich gedacht, dass sie ihren Kindern etwas Gutes mit einer solchen Kur tun, sagt Historiker Holger Köhn vom Büro für Erinnerungskultur Babenhausen (Hessen), das die Studie im Auftrag der Caritas durchgeführt hat. Zudem hätten die Kinder einer Zensur unterlegen. "Die Kinder durften ihren Eltern nur schreiben, dass alles super ist, dass es ihnen gut geht – wenn ein Kind auf eine Karte geschrieben hatte, dass es Heimweh hat, wurde die Karte zerrissen", berichtet Köhn.
Opfer sollen von der Caritas nicht entschädigt werden
"Wir arbeiten Geschichte auf und machen Unrecht sichtbar", sagte Diözesancaritas-Direktorin Nicola Adick in Mainz. Für alles, was den Kindern widerfahren sei, übernehme die Caritas die Verantwortung. Eine finanzielle Entschädigung der Opfer sei aber nicht geplant. Keines der Opfer sei mit einer solchen Forderung auf die Caritas zugekommen. Adick sagte, sie habe den Eindruck, den Betroffenen tue es gut, dass sie gehört werden. Denn viele der Opfer hätten bis vor Kurzem gedacht, sie seien die Einzigen, denen solches Unrecht widerfahren sei.
Auch Barbara Thomas ging es lange Jahre so. Sie hat bis heute mit den Erinnerungen zu kämpfen.