Anette Hannwacker hat lange auf diesen Tag gewartet. Seit 62 Jahren versucht sie zu verarbeiten, was ihr im Ferienheim in Langweiler im Hunsrück widerfahren ist. Nun schöpft die 68-Jährige aber wieder Hoffnung, dass die Marienschwestern sich ihrer Verantwortung stellen. Denn der Orden will offenbar den Vorwürfen der Frauen nachgehen, die seit Jahren davon berichten, was Nonnen ihnen angetan haben sollen.
Als ihre Eltern sie in das Kindererholungsheim der Marienschwestern nach Langweiler schickten, war Anette Hannwacker sechs Jahre alt. Sie machten sich Sorgen, dass das zierliche Mädchen ihren Schulranzen nicht tragen kann. "Also sollte ich kräftiger werden", erinnert sich Hannwacker, und zwar bei einer Kur im Hunsrück.
Sechs Wochen im Herbst 1961 war Hannwacker dort. Die Bilder aus der Zeit zeigen ein lachendes Kind mit Pünktchenkleid und Brille. Doch rückblickend seien es keine schönen Ferien gewesen, sagt die Frau aus dem Taunus: "Sie haben unsere kleinen Seelen kaputtgemacht."
Nächtliche Schläge und Essenszwang
Denn noch immer machten ihr die Erlebnisse aus Langweiler zu schaffen, sagt sie: "Ich habe Angst im Dunkeln. Nachts alleine Zuhause zu sein - das ist für mich der Horror." Nachts seien die Nonnen gekommen, um sie aus dem Schlaf zu wecken. "Ich musste mich auf den Bauch drehen und dann haben sie mich geschlagen." Es sollte offenbar eine Strafe sein, weil andere Kinder nach der Bettruhe noch gesprochen hatten.
Was Anette Hannwacker auch noch im Gedächtnis geblieben ist, sind die Mahlzeiten. "Wir sollten zunehmen und wurden gezwungen, Butterbrote und Pudding in uns hineinzustopfen", erzählt sie: Wer sich erbrach, musste laut Hannwacker weiter essen.
Leben Was habt ihr mit uns gemacht? Ehemalige Verschickungskinder fordern Aufklärung
In den 50er bis 70er Jahren schickten viele Eltern ihre Kinder alleine in Kurheime zum Aufpäppeln. Zigtausende wurden dort drangsaliert und seelisch verletzt. Wie geht die Aufarbeitung voran?
Betroffene erfahren kaum Unterstützung
Solche Erinnerungen hat auch Monika Kilburg an ihre Zeit in Langweiler. Sie war die Erste, die vor eineinhalb Jahren öffentlich erzählt hat, dass sie als Kind von den Marienschwestern der Unbefleckten Empfängnis misshandelt worden sei. Seitdem haben sich der Wintricherin noch etliche Frauen anvertraut, denen offenbar Ähnliches widerfahren ist.
"Ich hatte schlaflose Nächte", erzählt Kilburg. Auch, weil sie in ihrem Umfeld nur wenig Unterstützung bekommen habe. Im Dorf habe sie kaum jemand auf ihre traumatischen Erfahrungen angesprochen. "Die wollten nicht wahrhaben, was mir und anderen Verschickungskindern in Langweiler passiert ist", sagt die heute 66-Jährige.
Unerwartete Post des Ordens aus Rom
Wütend gemacht habe sie auch das Schweigen der Kirche. Lange hatte sich der Orden der Marienschwestern nicht bei ihr gemeldet: "Ich hatte wirklich das Gefühl, dass sie wollen, dass Gras über die Sache wächst." Das Bistum Trier wollte in der Sache vermitteln und hat seinerzeit einen Fall von mutmaßlichen Misshandlungen in Langweiler an den Orden weitergeleitet. Mehr als eine Empfangsbestätigung sei aber nicht zurückgekommen, heißt es bei der Pressestelle.
Nun aber gibt es eine für die Betroffenen überraschende Wendung. Eineinhalb Jahre nach Bekanntwerden der Vorwürfe ist beim SWR eine E-Mail aus Rom eingegangen. Darin schreibt Sybilla Koltan, die Generaloberin der Kongregation der Marienschwestern, sie höre "zum ersten Mal" von den Vorwürfen, werde diese aber "ordnungsgemäß untersuchen" lassen.
Marienschwestern wollen Ansprechpartner einsetzen
Koltan erklärt, sie sei dazu bereits in Gesprächen mit Fachleuten, wolle das Archiv öffnen und Schwestern befragen. Die Nonnen, die damals im Kindererholungsheim im Hunsrück tätig waren, seien allerdings mittlerweile verstorben. Deshalb habe auch die deutsche Regionaloberin Cordula Klafki seinerzeit nicht auf eine SWR-Anfrage reagiert.
"Der Fall hat uns auch bewusst gemacht, dass wir in der Kongregation noch keine Struktur haben, in der sich die Opfer melden können", schreibt Koltan: "Und dass uns die Instrumente fehlen, um diese Berichte richtig zu überprüfen." Daher wolle der Orden einen Ansprechpartner für Betroffene von psychischer und physischer Gewalt einsetzen.
Betroffene wünschen sich Aufarbeitung
Monika Kilburg sieht darin ein "positives Signal". Sie habe zwar "kein Vertrauen in den Orden oder irgendwelche Nonnen." Dennoch sei sie gespannt, wie die Schwestern die Vorfälle aufarbeiten und fände es sinnvoll, wenn die Schwestern einen Ansprechpartner benennen würden.
Auch Anette Hannwacker wünscht sich, "dass klargestellt wird, dass es Schuldige gab, dass ich nicht schuld war, dass es mir heute so geht." Sie hofft, dass sie die traumatischen Erlebnisse nicht länger mit sich allein ausmachen muss. Dass ihr 62 Jahre nach der Zeit in Langweiler endlich jemand zuhört.