"Bis ich zehn Jahre alt war, standen immer gepackte Taschen vorne an der Haustür", erinnert sich Moktaria Belabbad an ihre Kindheit. Geplant, aus Algerien nach Deutschland auszuwandern, hatten ihre Eltern schon längere Zeit. Als die erforderlichen Papiere dann alle vorlagen, war ihre Mutter im Winter 1993 bereits hochschwanger.
Moktaria wurde in Rodalben geboren, wuchs dort und in Worms auf. "Weil meine Eltern damit gerechnet haben, jeden Moment abgeschoben zu werden, gibt es auch nur ganz wenige Erinnerungen an die Anfangszeit in Deutschland." Kinderbilder, Plüschtiere, gemalte Bilder - alles sei leider verloren gegangen. "Meine Eltern dachten, sie handeln vorausschauend und schicken das schon mal vor nach Algerien, damit diese Dinge in Sicherheit sind, wenn wir dann nachkommen." Im Asylheim hätten sie Geschichten gehört: Das könne ganz schnell gehen und auch über Nacht. "Das waren schlecht kommunizierte Stories, aber das schürte Angst."
Es kam anders: Die Familie Belabbad arbeitete und blieb, auch Moktarias Geschwister kamen in Deutschland zur Welt. 2005 trat das Zuwanderungsgesetz in Kraft: Jede Person, die bis zu einem bestimmten Datum eingereist war, und vor allem ein in Deutschland geborenes Kind hatte, durfte bleiben (Niederlassungserlaubnis). Heute hat die gesamte Familie deutsche Pässe.
"Ich bin eigentlich schon immer diese Extrameile gelaufen"
Viele migrantische Menschen wüchsen mit dem unterschwelligen Gefühl auf, nicht ganz sicher zu sein, berichtet Moktaria, die heute als Teamleiterin für den Ärztlichen Bereitschaftsdienst arbeitet. Für sie habe die aktuelle Diskussion eine Art Black Box geöffnet: "Mich hat die Erkenntnis erschrocken, dass es für mich so selbstverständlich ist, dass ich eigentlich schon immer diese Extrameile gelaufen bin, immer den Extraaufwand betrieben habe, um mein Dasein hier zu rechtfertigen." Die Erfahrungen ihrer Eltern hätten sie in dieser Hinsicht geprägt. "Das tut mir im Nachgang leid für sie, dass sie keinen anderen Weg gesehen haben. Bei meinen eigenen Kindern würde ich das anders machen wollen. Ich würde sie ermutigen, für sich einzustehen und ihren Ärger nicht hinunterzuschlucken."
Es seien auf den ersten Blick belanglose Erfahrungen, die das Gefühl, immer etwas mehr zu tun zu müssen, um von der Gesellschaft anerkannt zu werden, verstärkten: "In der ersten Klasse, es war ein heißer Sommertag, bat ich die Lehrerin, das Fenster aufzumachen. Das ginge nicht, wir seien hier schließlich nicht in Algerien, war die Antwort." Ein Nachbar ermutigte die Eltern, das Gespräch zu suchen. "Am nächsten Tag saßen wir beim Schuldirektor, der sich entschuldigte, aber die Lehrerin sah nicht ein, dass an ihrem Spruch etwas nicht ganz in Ordnung war."
Abstruse Pläne von Rechtsextremen: Schnell gefährlicher Ernst?
Berna Yavuz wurde als Tochter türkischer Eltern in Koblenz geboren. Dort lebt sie noch heute und ist in der Familienhilfe bei der Arbeiter-Wohlfahrt (AWO) tätig. "Mir sieht man meinen Migrationshintergrund zwar nicht an", sagt die 30-Jährige, "aber ich habe schon oft Situationen erlebt, sei es im Privaten oder in meinem Job als Sozialarbeitern, bei denen ich mich gefragt habe, ob ich mich gerade hoffentlich verhört habe."
Sie hat über die Instagram von den Recherchen zum Treffen Rechtsextremer in Potsdam erfahren. Während sie die Pläne von "Remigration" zuerst für "Unsinn, Quatsch eben" hielt, kam ihr schnell der Gedanke: "Moment, das ist Ernst. Wenn man nicht gegen etwas steuert, dann kann es zur Realität werden." Sie selbst, ihr Vater und ihre Schwester haben deutsche Pässe, ihre Mutter aber hat nach wie vor einen unbefristeten Aufenthaltstitel. "Und die erste Reaktion meines Mannes, der seit vier Jahren in Deutschland lebt, war: Jetzt brauche ich ganz schnell die deutsche Staatsbürgerschaft."
"Moment, auch ich wäre betroffen"
Moktaria erfuhr in einem Unterhaltungspodcast von den Correctiv-Recherchen. "Dann habe ich angefangen, zu googeln, nach Wörtern wie 'Remigration' etwa, und habe mich gefragt, was damit überhaupt gemeint ist." Sie habe sofort an ihre Eltern gedacht, habe dann aber schnell gemerkt: "Moment, auch ich wäre betroffen. Als in Deutschland geborene Deutsche, die mit ihrem deutschen Pass reist. Einfach, weil ich mit meinen ausländischen Eltern offensichtlich nicht ganz dazu gehöre in den Augen einiger Menschen."
Sie selbst hat Erfahrungen mit Rassismus bisher weniger gemacht. "Gerade, wenn Menschen mit mir telefonieren im beruflichen Kontext, hören sie ja auch nicht, dass ich einen Migrationshintergrund habe. Aber ich bekomme es auch im Patientenkontakt mit: Es gibt Menschen, die sprechen gut Deutsch, haben aber Sorge, aufgrund ihres Akzents nicht ernstgenommen zu werden. Oder es gibt Menschen, die sagen, sie möchten bitte einen deutschen Arzt, und damit meinen sie im Extremfall - und das sagen sie dann auch - hundert Prozent deutsche Herkunft."
Im Job bleibe sie bei solchen Äußerungen gelassen und gehe nicht darauf ein, privat nehme sie an Demonstrationen teil. Ihr mache es Mut, dass gerade viele Nicht-Betroffene daran teilnehmen - auch, um das Zugehörigkeitsgefühl untereinander zu stärken: "Jetzt kommt es extrem drauf an. Die AfD hat eine Bühne, hat eine Plattform. Es gibt viele Ängste, die sie schüren, in vielen Menschen. Es ist gut, dass jetzt an die Öffentlichkeit kommt, worüber hinter verschlossenen Türen geredet wird. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass es das erste und das letzte Mal war."
Ängste anderer kleinreden? "Das ist Gaslighting"
Darum geht es vielen Menschen und auch den beiden jungen Frauen, wenn andere die aktuelle Berichterstattung zur AfD als "Panikmache" bezeichnen - auch, wenn klar ist, dass zum Beispiel der deutsche Pass nach derzeitiger Gesetzgebung nicht einfach beliebig und grundlos entzogen werden kann. "Das ist Gaslighting, das erschüttert die Selbstwahrnehmung", meint Berna. "Ich kenne Leute, die haben die doppelte Staatsbürgerschaft und die machen sich ernsthafte Sorgen, dass Gesetze geändert werden könnten in der Zukunft. Sie sehen: Es werden immer mehr Menschen, die der AfD recht geben. Und das ist gefährlich. Es ist schon mal passiert, also kann es wieder passieren."
In Bezug auf die derzeitig überall in Deutschland stattfindenden Demos findet sie: Es ist nie zu spät, sich einzubringen. "Oft läuft das ja leider so, dass die Leute darüber eine Weile reden, dann ist die Aufregung vorbei. Und so sollte es nicht sein, wir sollten dranbleiben und immer mehr aufklären - schon in Kitas und Schulen, auf Social Media, TikTok oder Instagram etwa, wo die AfD versucht, junge Leute zu erreichen und ihre Denkweise zu beeinflussen."
Sie hofft, dass immer mehr Menschen zu "Verbündeten" werden, auch, wenn sie keinen Migrationshintergrund haben: "Dass sie einfach den Mund aufmachen, wenn jemand rassistisch angefeindet wird. Wenn keiner die Betroffenen schützt, keiner einschreitet, dann kann und wird jeder irgendwann auf sie einschlagen." Und Moktaria plädiert dafür, in den Austausch miteinander zu gehen: "Ich würde mir wünschen, dass gefragt wird: 'Hey, wie geht es dir eigentlich mit dem Thema?' Dann besteht auch die Chance, dass eine Person, die diese Erfahrungen noch nie gemacht hat, etwas lernt und wir uns gegenseitig als Mitglieder der Gesellschaft stärken können."
Der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund in Rheinland-Pfalz liegt nach Angaben des Familienministeriums bei rund 27 Prozent - das heißt, über eine Million Menschen der insgesamt vier Millionen Rheinland-Pfälzerinnen und Rheinland-Pfälzer haben eine Migrationsgeschichte. Rund 146.000 Personen im Land haben außerdem neben der deutschen noch eine weitere Staatsbürgerschaft.