Um Russland abzuschrecken, wollen die USA wieder Marschflugkörper in Deutschland stationieren, und EU-Staaten wollen eigene Cruise Missiles entwickeln. Moskau spricht von Eskalation und will darauf reagieren. Dazu die Analyse der Sicherheitsexpertin Claudia Major von der Stiftung Wissenschaft und Politik im SWR-Aktuell-Interview mit Jonathan Hadem.
SWR Aktuell: Ist die Stationierung verteidigungspolitisch und auch strategisch sinnvoll?
Claudia Major: Meines Erachtens ist sie nicht nur sinnvoll, sondern sie ist überfällig. Und ich würde sogar sagen, dass wir das in vielen Berichten, die wir in Deutschland gesehen haben, gestern aus der falschen Perspektive behandeln: Die erste Reaktion ist immer: „Können die nach Moskau fliegen oder nicht?“. Ich würde sagen, wir sollten eigentlich der Bundesregierung, dem Verteidigungsminister und den Amerikanern dankbar sein, dass sie erwägen, diese Systeme hier zu stationieren – weil nämlich Russland seit Jahren vergleichbare Systeme hat. Und das heißt, dass wir in Deutschland - und die anderen Westeuropäer - in Reichweite dieser russischen Systeme liegen, und wir bislang dem nichts entgegenzusetzen haben. Das heißt: Wir hatten eine Lücke in unserem Schutzschirm, und die wird hoffentlich durch diese Systeme geschlossen.
SWR Aktuell: So argumentiert auch der Verteidigungsminister. Pistorius sagt nämlich genau das, und trotzdem gibt es ja in großen Teilen der Bevölkerung das Gefühl, dass sich das irgendwann eher zu einem Wettrüsten entwickeln wird. Ist da gar nichts dran, sind wir da tatsächlich weit entfernt von diesem Wettrüsten?
Major: Mich beunruhigt die internationale Entwicklung auch, und mich beunruhigen auch die enormen Investitionen, die Russland in seine Rüstung steckt und in seine Kriegsfähigkeit steckt. Aber noch mal kurz zurück zu den Fakten: Warum machen wir das? Weil Russland in den letzten 20 Jahren massiv in die Entwicklung neuer nuklearfähiger, Mittelstreckenraketen investiert hat, und in die Aufrüstung der Streitkräfte. Es hat ja den INF-Vertrag gebrochen, spätestens seit 2018, den Vertrag über nuklearfähige Mittelstreckenraketen. Es hat in Kaliningrad Iskander-Systeme stationiert, die Nuklearsprengköpfe tragen können. Sie haben im Herbst 2022 zusätzliche Kampfjets mit weitreichenden Kinschal-Hyperschallraketen stationiert - auch in Kaliningrad. Und Wladimir Putin hat Anfang 2023 angekündigt, dass er taktische Nuklearwaffen in Belarus stationieren möchte, in der Nähe von unser NATO-Partnern Litauen und Polen - nur um nochmal zu sagen, warum das gemacht wird, nochmal die Fakten in Erinnerung zu rufen. Wenn wir nicht so eine Zerstörung sehen wollen, wie wir sie jetzt in der Ukraine sehen, dann ist es gut, wenn man beispielsweise Flugabwehrraketen vom Typ SM-6 hat. Die haben das Ziel, Raketen, Drohnen oder Flugzeuge abzufangen. Ja, ich verstehe total die Beunruhigung. Ich würde mir wünschen, dass es anders wäre. Aber wenn wir sagen, wir wollen uns schützen, dann ist es sinnvoll, diese Systeme zu haben, um sie auch später noch hoffentlich wieder abrüsten zu können.
SWR Aktuell: Ist denn Ihrer Meinung nach die Gefahr mit diesem Beschluss gewachsen oder geschrumpft, dass die NATO mit in den Krieg in der Ukraine hineingezogen werden?
Major: Aus russischer Sicht sind wir westlichen Staaten schon längst im Krieg. Russland sieht sich im Krieg mit dem Westen. Wir sind aber als westliche Staaten keine Kriegspartei, weil wir nicht aktiv mit Truppen oder anderem an diesen Krieg beteiligt sind. Viel wichtiger ist aber, dass die Ukraine nach VN-Charta ein Selbstverteidigungsrecht hat. Und wir sind vielmehr verpflichtet, ihr bei diesem Selbstverteidigungsrecht zu helfen.
Und deswegen finde ich: Diese Frage, sind wir Kriegspartei oder nicht, ist wichtig, aber wir können uns ganz ehrlich machen: Wir haben eine Verpflichtung, der Ukraine als angegriffenem Staat zu helfen. Das machen wir. Wir sind juristisch nicht Kriegspartei. Aus russischer Sicht ist es etwas ganz anderes. Russland macht sowieso, was es will.
SWR Aktuell: Schauen wir noch kurz auf die deutsche Politik. In der Ampelkoalition kommt Zustimmung von FDP und Kritik von den Linken in der SPD und auch von den Grünen. Das war relativ erwartbar. Der Kanzler hat gestern zumindest einige wenige Sätze dazu verloren. Er sagte, diese Entscheidung sei lange vorbereitet und für alle, die sich mit Sicherheits- und Friedenspolitik beschäftigen, keine wirkliche Überraschung. Warum waren dann aber so viele Menschen auch in der Politik so überrascht?
Major: Ich kann darüber nur spekulieren. Mein Empfinden wäre: möglicherweise, weil die Entscheidung jetzt doch sehr überraschend als solche kam. Aber der Kanzler hat vollkommen recht. Wir haben schon sehr lange darüber gesprochen, in der nationalen Sicherheitsstrategie vom Juni 2023, wo also Deutschland gesagt hat, wie es die Welt sieht und wie es darauf reagieren möchte, steht das Thema „Abstandswaffen“ auch drin. Das heißt, es gab mehrere Vorankündigungen, dass Deutschland das machen möchte. Und deswegen ist es jetzt inhaltlich nicht überraschend - der Zeitpunkt möglicherweise schon. Und es deutet vielleicht darauf hin, dass man generell Sicherheitspolitik in Deutschland mehr erklären sollte und auch noch besser herleiten sollte, warum man was macht. Der Verteidigungsminister hat es gestern Abend in dem Interview sehr schön gemacht, und er hat auch noch mal ausdrücklich erklärt, worum es geht: Es geht nicht ums Kriegführen, es geht um Abschreckung. Es geht darum, Russland zu signalisieren, dass sich ein Angriff nicht lohnt. Das ist die klassische Idee von Abschreckung, dem Gegenüber zu sagen: Angriff lohnt sich nicht, weil eure Kosten viel höher wären als euer Gewinn - und deshalb macht es bitte nicht. Darum geht es. Und ich glaube, dass wir dieses Erklären viel, viel mehr machen müssen. Die Sorgen kann man nicht wegnehmen, aber man kann sie zumindest ein bisschen aufheben.