Wer in diesen Tagen nach dem Aktienkurs der Rüstungsfirma HENSOLDT schaut und wie er sich seit Kriegsbeginn entwickelt hat, der entdeckt eine dreistellige grüne Zahl mit einem Plus davor: + 140 Prozent - mal etwas mehr, mal weniger. Die Zahl spiegelt die Situation der ganzen Branche wider, in diesem Fall die des Herstellers für Sensoren und Radare. Sitz in der Nähe von München, das größte Werk ist mitten in Ulm.
HENSOLDT-Chef Müller: Tiefer Wandel in der Rüstungsindustrie
Konzernchef Thomas Müller spricht gar von einem "ganz tiefen Wandel in der gesamten Rüstungsindustrie". Aber dazu später mehr. Zunächst ist Müller zurückhaltend. Goldgräberstimmung in der Branche, knallende Sektkorken? Er schüttelt den Kopf. "Wir freuen uns, dass sich die Unternehmensgeschichte so positiv entwickelt hat - aber Sektkorken knallen, das ist nicht unsere Art", sagt er ruhig, überlegt, aber bestimmt.
Diese positive Entwicklung der Unternehmensgeschichte hat natürlich einen bitteren Hintergrund: Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine und die von Kanzler Olaf Scholz (SPD) eingeläutete Zeitenwende. Und: das 100 Milliarden Euro schwere Sondervermögen, mit dem die Bundeswehr wieder fitgemacht werden soll - nach Jahren des Rotstifts.
HENSOLDT erwartet viele Aufträge aus Sondervermögen
Warum also die Zurückhaltung? "Bei uns ist aus dem Sondervermögen noch nichts angekommen", erklärt Thomas Müller. Kurze Pause. "Gute Nachricht: Jetzt ist das Ministerium so weit, dass viele der Programme aus dem Sondervermögen kommen. Wir erwarten in den nächsten Wochen und Monaten signifikante Aufträge aus den 100 Milliarden Euro." So viele, dass der Konzern auch personell aufstocken will. In Ulm sollen in den kommenden Jahren mehrere hundert Arbeitsplätze entstehen. Für Oberkochen (Ostalbkreis) plant der Konzern einen 100 Millionen Euro teuren Neubau.
Bis vor Kurzem dürfte HENSOLDT, immerhin die Nummer vier unter den deutschen Rüstungskonzernen, nur den Wenigsten ein Begriff gewesen sein. Erst 2017 ging das Unternehmen aus der Radarsparte des Flugzeugbauers Airbus hervor. Airbus konzentrierte sich lieber auf die Flugzeuge, HENSOLDT machte fortan sein eigenes Ding. Der Finanzinvestor KKR griff zu, Ende 2020 stieg sogar der Bund mit 25,1 Prozent ein. Die Bundesrepublik kann somit Abstimmungen und Beschlüsse verhindern, zum Beispiel über einen Verkauf an ausländische Investoren.
HENSOLDT-Radare zur Luftraumüberwachung in der Ukraine im Einsatz
Waffen produziert das Unternehmen allerdings nicht, sondern hauptsächlich Sensoren und Radare, wie das TRML-4D. Einige dieser mobilen Radare zur Luftraumüberwachung sind seit Herbst in der Ukraine im Einsatz, erklärt Konzernchef Thomas Müller. Marschflugkörper, Flugzeuge und Hubschrauber - all das kann das TRML-4D erkennen und dann Raketen den Weg weisen, in einem Radius von bis zu 250 Kilometern. Stückpreis: rund 15 Millionen Euro.
Die Elektronik des Unternehmens, vieles davon entwickelt und gebaut in der Ulmer Weststadt, kommt in Kampflugzeugen oder Panzern wie dem Leopard zum Einsatz. Besonders stolz ist Müller auf ein Rundum-Sicht-System, das ein bisschen so klingt, wie aus einem Science-Fiction-Film.
Künstliche Intelligenz spielt bei Rüstungsgütern eine immer größere Rolle
Dabei filmen Kameras die Umgebung eines Panzers. Diese Daten werden auf eine Virtual-Reality-Brille übertragen, die ein Soldat im Panzer trägt. Er kann damit sehen, was draußen passiert, ohne den Kopf aus der Luke stecken zu müssen. Zusammen mit Wärmebildkameras und künstlicher Intelligenz könne man schneller erkennen, wo sich der Feind befinde und wie gefährlich er sei, schildert Müller, nach eigenen Angaben früher selbst "Panzer-Mann", mit Begeisterung. Überhaupt künstliche Intelligenz (KI): Sie spielt bei Rüstungsgütern eine immer größere Rolle. Seit Januar arbeitet HENSOLDT mit einem auf KI spezialisierten Unternehmen zusammen. Als "eines unserer Kernelemente" bezeichnet sie der Konzernchef.
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine habe die Branche verändert, sagt Müller, und ist damit wieder beim tiefen Strukturwandel der Branche angelangt. Der werde in vielen Bereichen deutlich. Was das Image angeht: Die Bevölkerung sehe zunehmend, wie wichtig eine funktionierende Rüstungsindustrie sei. Was die Aufträge angeht: HENSOLDT mit seinen 6.500 Beschäftigten will pro Jahr seinen Umsatz um zehn Prozent steigern. Und was die Arbeitsweise angeht. Bislang produzierte HENSOLDT nur auf Bestellung. Inzwischen würden Radare auf Vorrat gebaut, weil "wir uns sicher sind, dass der Markt dafür da ist".
Der Markt ist ein Milliardenmarkt. Weil die Entwicklung und der Bau der Produkte teuer sind. So teuer, dass nicht jedes Land seine eigenen Wege gehen könne, findet Müller. Denn Europa müsse sich unabhängiger von den USA machen. Das Rüstungsbudget des gesamten Kontinents reiche aber nicht einmal an das US-amerikanische heran.
Dazu komme, dass in Europa unterschiedliche Kampf- und Schützenpanzer sowie zwei Luftkampfsysteme entwickelt würden. Europa verschwende dadurch viel Geld, die europäische Rüstungsindustrie sollte sich stattdessen konsolidieren, sagt Müller, und schiebt ruhig aber bestimmt hinterher: Dabei würde "HENSOLDT gerne die Kernrolle spielen".