Mit schlurfenden Pantoffeln schleppt sich Anais Borrego zum Esstisch, atmet schwer, stützt sich auf die Stuhllehne. "Körperliche Anstrengung ist für mich ein Horrortrip. Treppensteigen ist Wahnsinn. Es fühlt sich an wie ein Marathon. Das Herz ist ständig angestrengt, um meinen Kreislauf zu halten. Ich bin einfach nur erschöpft."
Vor drei Jahren ließ sie sich gegen Corona impfen. Nach der Booster-Impfung begannen die Probleme. Auf dem Heimweg kribbelte ihr Arm, ihre Hände zitterten und Schmerzen schossen bis in ihren Kopf. Als sie zu Hause ankam, fragte ihr Mann nur: "Was ist passiert?"
Post-Vac-Syndrom: Ein Leben auf Sparflamme
Früher stand die 32-jährige Sozialpädagogin mit beiden Füßen fest im Leben. Gemeinsam mit ihrem Mann kaufte sie ein kleines Haus in Balingen. Sie ist damals Ende zwanzig und voller Ideen diesen Ort mit Leben zu füllen. Doch das Leben hatte andere Pläne.
Anais Borrego schlüpft aus ihren Pantoffeln und lässt sich langsam auf das große gelbe Sofa gleiten. Das ist ihr Rückzugsort. Sie hat ihr Haus liebevoll eingerichtet, um den Alltag erträglicher zu machen. Auf einem Sideboard neben ihr hängen goldene Ostereier an Korkenzieherweiden und orange-gelbe Tulpen schmücken den Tisch. Alles bildet ein harmonisches Gesamtbild, doch es ist nur ein kleiner Trost in ihrer schwierigen Lebenssituation.
Die Suche nach Hilfe und Diagnosen bei Post-Vac
In den Wochen und Monaten nach der Corona-Impfung verschlechtern sich die Symptome. Lähmungen, Muskelzuckungen, Nervenschmerzen, Sehstörungen, Schluckbeschwerden, Herzrasen. Eine Ärzte-Odyssee begann. Sie wurde ohne Diagnosen nach Hause geschickt. "Wenn ich erwähnte, dass die Symptome wenige Minuten nach der Impfung begonnen haben, wurde ich nicht ernst genommen."
Doch Anais Borrego gab nicht auf. Andere Ärzte diagnostizierten Entzündungen im Nervenwasser, entzündete Blutgefäße, das Fatigue Syndrom und Autoimmunreaktionen. Sie sammelte alle Befunde und reichte sie beim Versorgungsamt ein. Wenn ihr Fall als Impfschaden anerkannt würde, könnte sie finanzielle Unterstützung erhalten.
Impfschaden bisher nicht anerkannt
Anais Borrego atmet tief durch. Das Erzählen strengt sie an. Sie holt drei dicke Ordner aus dem Schrank. Blättert in den Seiten. "Heute brauche ich eine halbe Stunde, um eine Seite zu lesen und zu verstehen." Das Post-Vac-Syndrom beeinträchtigt auch ihre kognitive Leistung.
Vor ihr liegt der Bescheid des Versorgungsamts. Der Antrag auf Anerkennung eines Impfschadens wurde abgelehnt. Als Auslöser für ihre Beschwerden wird auf eine zurückliegende Borreliose-Erkrankung hingewiesen. "Ich wusste gar nicht, dass ich Borreliose hatte. Wahrscheinlich wurde das irgendwann mal in meinem Blut festgestellt." Sie ist überzeugt "die Gutachter finden immer irgendwas."
Laut dem baden-württembergischen Gesundheitsministerium haben seit Beginn der Pandemie rund 1.140 Personen die Anerkennung eines Impfschadens bei den Versorgungsämtern beantragt, 461 Anträge sind bisher entschieden worden, davon 40 positiv.
Anais Borrego schüttelt den Kopf. Die Post-Vac-Patienten müssen sich durch ein Dickicht von Anträgen kämpfen. Ein Prozess, der kompliziert und zeitraubend ist. Für viele, so Borrego, sei der Alltag schon eine Herausforderung. Für die Zukunft würde sie sich wünschen, dass Betroffene schneller finanzielle Hilfen bekommen. Nach dem Bescheid legte sie Einspruch ein. Das Verfahren läuft.
Nach Corona-Impfung: Arbeitslos und ohne Perspektive
Die 32- Jährige arbeitet seit über drei Jahren nicht mehr als Sozialpädagogin. Ihren Job musste sie nach der Impfung aufgeben. Seitdem ist sie zu Hause und versucht ihre vierjährige Tochter so gut wie möglich zu versorgen. Bekannte und Nachbarn helfen an schlechten Tagen aus. Ihr Mann ist Schreiner und zum Hauptverdiener der Familie geworden, allerdings viel unterwegs. Die Renovierung des Hauses ist ins stocken geraden, an ein zweites oder drittes Kind möchte sie im Moment nicht mehr denken.
Anais Borrego räumt die Ordner weg und geht zur Küche. Zwischen Herd und Spüle steht ein grauer Polsterhocker. "Ich habe mir hier einen Hocker hingestellt, damit ich zwischendurch Pausen machen kann." Sie beginnt Paprika und Brokkoli zu schneiden. Schon nach ein paar Schnitten setzt sie sich hin "mein rechtes Bein fängt immer an zu zittern und wird ganz schwach."
Die Vorstellung, dass andere ihre Schmerzen als Einbildung abtun könnten, quält sie. Nun soll sie einen Psychologen aufsuchen. "Vielleicht ist es ja nur in meinem Kopf. Vielleicht hilft es", sagt sie ironisch und fügt hinzu "aber bei Long-Covid-Patienten hat das auch nichts gebracht."
Post-Vac-Patienten fordern spezielle Anlaufstellen
Der Internist Albrecht Kühn kennt diese Empfehlungen für Post-Vac-Patienten. "Es ist ein Irrtum zu glauben, dass ein Patient gesund ist, nur weil keine Krankheit diagnostiziert wurde." In seiner Praxis begegnet er täglich Menschen, die unter unerklärlichen Symptomen leiden. Sie verdienen Behandlung und Respekt, auch wenn ihre Beschwerden rätselhaft bleiben. "Es ist nicht richtig, sie einfach an einen Psychologen zu verweisen", betont Kühn. Die Impfung habe der Bevölkerung mehr genutzt als geschadet. Obwohl die Anzahl der Post-Vac-Patienten gering sei, sei es wichtig, die Betroffenen ernst zu nehmen. Kühn betont zudem, dass weitere Forschungsarbeit erforderlich ist.
Kühn glaubt, dass spezielle Ambulanzen die Lösung sein könnten. Professor Fred Zepp, ehemaliges Mitglied der ständigen Impfkommission (STIKO), stimmt ihm zu. "Wir dürfen die Menschen mit Post-Vac nicht alleine lassen", sagt er und schlägt vor, dass Post-Covid Ambulanzen auch Post-Vac-Patienten behandeln sollten.
In Tübingen gibt es eine Post-Covid Ambulanz. Doch Bekannte aus Anais Borregos Selbsthilfegruppe sind dort schon abgewiesen worden. Trotzdem bleibt die Uniklinik Tübingen nicht untätig. Sie hat bei den Ministerien um finanziellen Spielraum für weitere Untersuchungen und grundlegende Studien zu Post-Covid und Post-Vac gebeten. Spezielle Ambulanzen für Post-Vac-Patienten gibt es bisher in Marburg und Berlin.
Wenig Hoffnung auf Heilung
Anais Borrego arbeitet mittlerweile auf Mini Job Basis in einem Blumenladen. Trotz der Anstrengung, die diese Arbeit mit sich bringt, findet sie Freude darin. Doch wenn sie in die Zukunft blickt, sieht sie wenig Hoffnung. Sie hat den Glauben daran verloren, dass ihr Leben jemals wieder so schön sein wird wie früher. "Ich befürchte, in meinem Körper ist bereits zu viel zerstört", gibt sie offen zu.