Bei Europa-, Bundestags- oder Landtagswahlen ist es schon lange möglich - und jetzt können Menschen ohne festen Wohnsitz in Baden-Württemberg zum ersten Mal auch an der Kommunalwahl im Land teilnehmen.
So wie Erwin aus Freiburg. Der Ungar, den wir nur beim Vornamen nennen sollen, ist einer von 1.600 Wohnungslosen in der Stadt. Das sind Menschen, die zum Beispiel bei Freunden oder Verwandten wohnen oder draußen schlafen. Vor fünf Jahren ist Erwin nach Freiburg gezogen, will sich dort eine Arbeit suchen und ein besseres Leben aufbauen. Wählen zu gehen findet er wichtig. Doch für Wohnungslose gibt es viele Hindernisse.
In Freiburg hat es sich deshalb Thomas Becker von der Ombudsstelle für wohnungslose Menschen zur Aufgabe gemacht, ihnen zu helfen, dass sie ihre Stimme abgeben können.
Wahlwerbung in der "Pflasterstub"
Ein Vormittag in der "Pflasterstub", einem Treff für wohnungslose Menschen in Freiburg zwischen Münsterplatz und neuer Synagoge. Hier können sie frühstücken, duschen, Wäsche waschen oder auch Rat bei den Sozialarbeitern der Caritas suchen. Becker war oft hier, jetzt in der Zeit vor der Wahl. Dass Wohnungslose auch als Bürgerinnen und Bürger mit Wahlrecht gesehen werden, das ist ihm wichtig. Auch wenn er sich von Anfang an keine Illusionen über eine große Wahlbeteiligung gemacht habe. Die Menschen hätten größere Probleme, als wählen zu gehen, sagt Becker.
Trotzdem versucht er, die Menschen, die in die "Pflasterstub" kommen, zur Wahl zu ermutigen. Mit einer Wohnungslosen setzt er sich an diesem Vormittag an einen Tisch. Die Frau interessiert sich, hat sogar eine Broschüre für die Europawahl dabei.
Postersatzadresse als Schlüssel zur Wahl
Interesse allein reicht aber nicht - es gibt einige Voraussetzungen. Weil die Menschen ohne festen Wohnsitz sind, haben sie auch keine Meldeadresse und bekommen deshalb keine Wahlunterlagen zugeschickt. Sie müssen stattdessen mit ihrem Ausweis persönlich beim Wahlamt erscheinen, um sich ins Wählerverzeichnis eintragen zu lassen und dann ihre Wahlbenachrichtigung zu erhalten.
Nur: Wenn sie keine offizielle Meldeadresse haben und keine Wahlunterlagen bekommen, wie erfahren die Menschen dann, was zu tun ist? An dieser Stelle will das Team der "Pflasterstub" helfen. Dorthin können sich Wohnungslose ihre Post schicken lassen, vom Sozialamt oder der Arbeitsagentur. Postersatzadresse heißt das.
Insgesamt zehn Einrichtungen in Freiburg bieten Postersatzadressen an. Thomas Becker hat gelbe Zettel entworfen und gedruckt: "Einladung zur Europa- und Gemeinderatswahl für Wohnungslose" steht darauf. Die hat er in alle Postfächer der Wohnungslosen in der "Pflasterstub" legen lassen. Sie sieht ein bisschen aus wie die offizielle Wahlbenachrichtigung der Stadt. Darauf steht in einfacher Sprache erklärt, was Wohnungslose tun müssen, um an der Wahl teilnehmen zu können.
Eintragen ins Wählerverzeichnis
Um den Menschen das ganze Prozedere zu erleichtern, hat sich Thomas Becker außerdem Verstärkung bei Andreas Kern vom Freiburger Wahlamt geholt. Zusammen haben sie eine Woche im Mai organisiert, in der Wohnungslose auf dem Weg zu ihren Kreuzchen auf den Stimmzetteln aktiv begleitet wurden, wie Kern berichtet.
Geringer Rücklauf - trotzdem ein Erfolg
Von den 1.600 Wohnungslosen in Freiburg sind etwa 900 nur über eine Postersatzadresse erreichbar. Von diesen 900 Menschen haben sich bis jetzt 15 neu ins Wählerverzeichnis eintragen lassen. Auf den ersten Blick mag diese Zahl verschwindend gering erscheinen. Doch Willifred Bongartz, der Leiter der "Pflasterstub", wertet sie trotzdem als Erfolg.
Auch Erwin aus Ungarn hat sich den gelben Wahlzettel genau angesehen. Er kommt täglich in die "Pflasterstub", um nach seiner Post zu schauen. Ins Wählerverzeichnis hat er sich trotzdem nicht eintragen lassen. Als Ungar wäre das noch ein Stück komplizierter gewesen.