"Wir sind gegen jeden Antisemitismus!", ruft Karima Benimmar ins Megafon. Die junge Aktivistin hat eine Pro-Palästina-Demonstration in der Stuttgarter Innenstadt mitorganisiert - jetzt steht sie inmitten von mehr als tausend Demonstrierenden. Die Stimmung ist extrem emotional. Manche halten drastische Bilder hoch, etwa von getöteten Kindern, vermutlich in Gaza. Viele sind traurig, andere auch wütend. Karima Benimmar versucht, dafür zu sorgen, dass alles friedlich bleibt.
"Es ist natürlich sehr schwierig, wenn man dann in so einer Lage sehr genau darauf achten muss, wie man nach außen wirkt", sagt Benimmar dem SWR: "Wenn jeder falsche Schritt auch falsch interpretiert werden kann."
Die Palästina-Demos werden von einem großen Polizeiaufgebot begleitet. In Hamburg und anderen Städten haben Behörden bei Demonstrationen sogar Symbole wie die palästinensische Flagge verboten. Solche auch juristisch umstrittenen Verbote zeigen, wie groß die Befürchtung in Deutschland ist, dass auf Versammlungen Israel- oder gar judenfeindliche Parolen geäußert werden.
Muslime unter Generalverdacht?
Das Existenzrecht Israels ist in Deutschland "Staatsräson" - das betonen Politikerinnen und Politiker in diesen Tagen immer wieder. Auch in der Bevölkerung ist die Solidarität mit Israel nach dem brutalen Angriff der Terrororganisation Hamas vom 7. Oktober groß. Viele Menschen mit muslimischem Hintergrund vermissen dabei das Mitgefühl mit den zivilen Opfern der israelischen Gegenangriffe - und sehen sich gleichzeitig, wegen ihres oft anderen Blickwinkels auf den Israel-Palästina-Konflikt, einem Generalverdacht ausgesetzt.
"Da passiert ein Terroranschlag - und die Musliminnen und Muslime sind schuld und müssen sich davon distanzieren." So beschreibt Karim Saleh das Gefühl vieler Jugendlicher, mit denen er durch seine Arbeit in Kontakt kommt. Saleh arbeitet für die Fachstelle Extremismusdistanzierung, schwerpunktmäßig zu religiös begründetem Extremismus. In Workshops oder bei Besuchen in Schulklassen bringt er Jugendlichen die jüdische Kultur und Geschichte näher, beugt so Hass und Diskriminierung vor. Viele der Jugendlichen, mit denen er arbeitet, haben einen muslimischen Hintergrund. "Israelfeindschaft, auch Antisemitismus, ist da ein reales Problem", sagt er.
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Vorurteile sind oft da - lassen sich aber abbauen
Saleh nennt Studien, wonach die Zustimmung zu bestimmten antisemitischen Aussagen unter Menschen mit arabischem Hintergrund größer ausfällt als bei der sogenannten deutschen Mehrheitsgesellschaft. Bei seiner Arbeit merke er, dass sich solche Vorurteile schnell abbauen lassen - wenn man sie rechtzeitig anspricht.
Der nun ausgebrochene Krieg erschwere seine Arbeit, sagt Saleh. Präventionsarbeit sei da schwierig: "Im Moment können wir eigentlich nur Feuerlöscher sein", sagt er.
"Lieber Tod als Demütigung"
Wie aufgeheizt die Stimmung ist, sieht und hört man auch auf Demonstrationen wie der in Stuttgart. Nicht alle äußern sich hier so differenziert wie Karima Benimmar. Eine große Gruppe junger Männer stimmt kriegerische Gesänge an: "Lieber Tod als Demütigung", heißt es darin auf Arabisch, und in einem anderen Lied: "Wir opfern unsere Seele und unser Blut für Dich, Al-Aqsa". Gemeint ist die berühmte Moschee in Jerusalem - der Stadt, auf die sowohl Israelis als auch Palästinenser Anspruch erheben.
Extremismus-Experte Saleh findet die Aussagen "martialisch": "Wie problematisch es ist, welche Ideologie dahintersteckt, kann man nur im Einzelfall herausfinden, durch den direkten Kontakt." Noch deutlich radikalere Aussagen finden sich in sozialen Medien - auch von palästinensischen Organisationen, die in Baden-Württemberg aktiv sind. Beispiel: "Palästina spricht".
Ein Terrorangriff, "auf den man stolz sein kann"?
Am 7. Oktober, dem Tag des Terrorangriffs der Hamas, schrieb die Gruppe: "Wir sind überwältigt. Heute ist ein revolutionärer Tag, auf den man stolz sein kann." Dazu postete sie ein Foto von einem Bagger, der einen Grenzzaun durchbricht. Der Post findet sich noch immer auf X (vormals Twitter), auf Instagram ist er erst seit Kurzem nicht mehr auffindbar.
Vom SWR mit Fragen zu dem Posting konfrontiert, schickt "Palästina spricht Stuttgart" eine dreiseitige Antwort - geht dabei aber nur am Rande auf die Fragen ein. Auf die Frage, wie "Palästina spricht" dazu kommt, von einem "Tag, auf den man stolz sein kann" zu sprechen, wenn mehr als 1.300 Menschen (größtenteils Zivilisten) in Israel von Terroristen brutal ermordet werden, heißt es lediglich: Der Post sei zu einem Zeitpunkt verfasst worden, "in dem noch nicht die heute vorliegenden Informationen bekannt waren". Außerdem habe sich der Kommentar lediglich "auf das Durchbrechen einer Mauer" bezogen - gemeint sind offenbar die Grenzanlagen von Gaza.
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Keine Kritik an der Hamas
Die Gruppe beklagt außerdem, die Anfrage habe "bei uns den Eindruck hinterlassen, Sie hätten lediglich Interesse an einer Stellungnahme unsererseits zur Hamas". Die SWR-Mail enthielt die Frage: "Wie ist Ihre Haltung zur Hamas?" Doch dazu äußert sich die Gruppe nicht: Die Hamas wird im weiteren Verlauf ihrer Antwort mit keinem Wort mehr erwähnt.
Extremismus-Experte Saleh kennt "Palästina spricht", hat Veranstaltungen der Organisation in Freiburg besucht. Dass die Gruppe auf die Fragen zur Hamas nicht eingeht, überrascht ihn nicht: "Das ist dort eine Leerstelle", sagt er: "Eine Kritik an der Hamas kommt einfach nicht vor."
Hamas wird teilweise als „Widerstandsorganisation“ wahrgenommen
"Palästina spricht" ist damit keine Ausnahme. "Ich beobachte häufig, dass die Hamas erstmal als Widerstandsorganisation wahrgenommen wird", sagt Saleh. Auch auf der Palästina-Demonstration in Stuttgart am vergangenen Freitag scheint es vielen schwer zu fallen, eine klare Aussage zu der Terrororganisation zu treffen. "Es geht hier nicht um Hamas", heißt es da, oder: "Wir sind weder für noch gegen Hamas."
Karim Saleh von der Fachstelle Extremismusdistanzierung betont: "Es gab viele Musliminnen und Muslime, die sich sehr klar schon früh vom Terror der Hamas distanziert haben." Auch bei seiner Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen stelle er fest: "Da ist sehr schnell ein Verständnis dafür da, dass das, was die Hamas gemacht hat, menschenverachtender Terror ist - und nichts anderes." Es lohne sich daher, auch bei unterschiedlichen Blickwinkeln auf den Israel-Palästina-Konflikt weiterhin das Gespräch zu suchen - ohne dabei extremistische Aussagen zu tolerieren.