Am 8. September 2023 soll ein Patient, der in Wiesloch (Rhein-Neckar-Kreis) im Psychiatrischen Zentrum Nordbaden (PZN) untergebracht war, in der Wieslocher Innenstadt eine 30 Jahre alte Frau erstochen haben. Der Mann war laut PZN davor vom Psychiatrie-Gelände entwichen. Ein Augenzeuge aus Wiesloch, der sich an den SWR gewendet hat, will gesehen haben, dass ein Pfleger des PZN die Verfolgung aufgenommen und auf dem Weg in die Innenstadt auf den entwichenen Patienten eingeredet haben soll. Der 33 Jahre alte Tatverdächtige wurde inzwischen in die Psychiatrie nach Weinsberg verlegt.
Matthias Michel ist Ärztlicher Direktor des Klinikums am Weissenhof in Weinsberg (Kreis Heilbronn), Zentrum für Psychiatrie (ZfP). Er erklärt im SWR-Interview ganz generell Befugnisse und Grenzen für Mitarbeitende im Maßregelvollzug, wenn eine Patientin oder ein Patient aus einer Maßregelvollzugs-Einrichtung entwichen ist.
SWR Aktuell: Ganz generell: Wenn ein Patient aus dem Maßregelvollzug entweicht, und ein Pfleger oder eine Pflegerin bekommt das mit und versucht, diesen Patienten wieder "einzufangen" - wie weit darf eine Pflegekraft da gehen? Wo sind Grenzen?
Matthias Michel: Eine Pflegekraft kann prinzipiell einen Patienten festhalten. Das ist theoretisch möglich. Unsere Mitarbeiter sind diesbezüglich aber eigentlich nicht dafür ausgebildet. Sie sind primär für verbale Deeskalation ausgebildet. Das heißt: Sie versuchen, den Patienten zum Umkehren, zum Abstoppen zu bewegen. Alles andere hängt dann letztendlich vom Einzelfall ab. Und ob sich jemand dann auch traut, einen Patienten festzuhalten.
SWR Aktuell: Wie sollte so eine verbale Deeskalationsmaßnahme konkret ablaufen?
Michel: Man kennt die Patienten ja in der Regel. Das heißt, man kann die Patienten gezielt ansprechen und versuchen, beruhigend auf sie einzuwirken und dadurch eine Verhaltensänderung zu erreichen. Also: Die entwichene Patientin oder den Patienten davon zu überzeugen, dass das gerade keine gute Idee ist, wegzulaufen und zu versuchen, die Person zurückzuhalten. Das gelingt auch immer wieder, dass die Betroffenen dann eben doch durchaus stoppen und ins Gespräch mit der Pflegekraft verwickelt werden. Dann kann man sie auch dazu bewegen, umzukehren.
SWR Aktuell: Und was ist, wenn die verbale Ansprache nicht funktioniert?
Michel: Wenn das nicht erfolgreich ist, dann kann man natürlich nach eigenem menschlichen Ermessen die Person verfolgen. Was wir ja außerdem immer machen in so einem Fall: Wir alarmieren im gleichen Moment die Polizei, damit die Fahndungsmaßnahmen auslösen kann. Eine Pflegekraft, die einen entwichenen Patienten verfolgt, kann dann der Polizei sagen, wo sich der entwichene Patient oder die Patientin gerade befindet. Man könnte so eine Person natürlich auch festhalten, wenn man sich das zutraut. Man kann beim Festhalten auch Passanten um Hilfe bitten. Diese Möglichkeit hat ja letztendlich jede Bürgerin und jeder Bürger.
Nach tödlichem Messerangriff durch PZN-Patienten in Wiesloch Augenzeuge: "Das sah nicht aus, als ob jemand versucht, die Flucht zu verhindern"
Nach dem tödlichen Messerangriff in Wiesloch berichtet ein Augenzeuge über die Flucht des Patienten: Das Verhalten des Personals habe halbherzig und zögerlich gewirkt.
SWR Aktuell: Eine Pflegekraft ist aber nicht bewaffnet, zum Beispiel mit einem Elektroschocker?
Michel: Nein, überhaupt nicht. Die Pflegekraft hat aber ein Telefon, ein Handy dabei, mit dem man unmittelbar einen Alarm oder einen Notfall auslösen und Kontakt mit der Polizei halten kann.
SWR Aktuell: Wie und wo sind für solche Fälle Befugnisse von Mitarbeitenden im Maßregelvollzug geregelt oder festgelegt?
Michel: Das ist in den üblichen Gesetzen geregelt. Letztendlich hat eine Pflegekraft im Maßregelvollzug keine "hoheitsrechtlichen" Befugnisse wie sie beispielsweise die Polizei hat. Sondern: Sie hat ähnliche Rechte wie sie jeder Bürger hat, der einen Straftäter festhalten kann, wenn der Bürger eine Straftat beobachtet - im Rahmen des "rechtfertigenden Notstandes". Also: Einen mutmaßlichen Täter festhalten, mit bloßen Händen.