Die Kita-Krise in Baden-Württemberg verschärft sich weiter: Die Zahl der fehlenden Betreuungsplätze habe sich nochmal um 1.800 auf 59.400 Plätze erhöht, heißt es in einer Studie der Bertelsmann-Stiftung vom Dienstag. Zugleich fehlen demnach 18.330 Erzieherinnen und Erzieher, um alle Kinder betreuen zu können, deren Eltern dies wünschen. Das sind nochmal über 1.500 mehr als im vergangenen Jahr.
Der Abbau des Kitaplatz-Mangels muss aus Sicht von Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) Priorität haben. "Weil das ist nicht nur für die Kinder von großer Bedeutung, sondern auch für die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt", sagte er am Dienstag in Stuttgart.
Besonders groß ist die Lücke der Studie zufolge im U3-Bereich. Demnach liegt die Quote der Kinder unter drei Jahren, die in einer Kita betreut werden, bei fast 30 Prozent. 45 Prozent der Eltern wünschten sich aber eine Betreuungsmöglichkeit für ihr Kind in dieser Altersgruppe. Bei den über Dreijährigen gehen 93 Prozent der Kinder in einen Kindergarten, allerdings geben 96 Prozent der Eltern einen Betreuungsbedarf an.
Fehlendes Personal in Kommunen
Damit unterläuft Baden-Württemberg weiterhin in vielen Teilen des Landes den Rechtsanspruch der Eltern auf eine Betreuung. "Baden-Württemberg kann den Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz nach wie vor nicht bedarfsgerecht erfüllen. Die Kinder bekommen keinen Zugang zu frühkindlicher Bildung, während die Eltern Familie und Beruf schwieriger vereinbaren können", kritisierte Kathrin Bock-Famulla, Expertin für frühkindliche Bildung bei der Stiftung.
Kretschmann erklärte, dass die Kommunen für Kitas zuständig seien, diese seien in der Pflicht, den Beruf so attraktiv wie möglich zu machen. "Wir unterstützen sie dabei so gut wir können", sagte er. Das Problem sei das Personal. "Warum ist das so? Weil Baden-Württemberg wächst“, so Kretschmann weiter.
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Expertin: Kita-Öffnungszeiten auf sechs Stunden reduzieren
Bildungsexpertin Bock-Famulla macht einen brisanten Vorschlag, mit dem die Krise aus ihrer Sicht schnell in den Griff zu bekommen wäre: Die Kita-Öffnungszeiten könnten auf sechs Stunden täglich verkürzt werden - also zwei bis drei Stunden weniger als derzeit im Regelfall. Dadurch könnten im Jahr 2025 der Bedarf abgedeckt und der Personalschlüssel gehalten werden. "Ein solches Vorgehen kann aber nur in Abstimmung zwischen Eltern, Träger und Kommune getroffen werden", betonte sie.
Arbeitgeber müssten die Arbeitszeiten der Eltern besser an die Kita-Öffnungszeiten anpassen. "Die Kita-Krise ist so weit fortgeschritten, dass sie neue Antworten erfordert." Die Expertin verwies darauf, dass laut der Kinderbetreuungsstudie 2022 des Deutschen Jugendinstitutes sich ein Teil der Eltern in Baden-Württemberg kürzere Betreuungszeiten wünschten, als die vertraglich vereinbarten.
Kretschmann betonte, dass es mit der Öffnungsklausel die Möglichkeit für die Kommunen gäbe, das zu entscheiden. "Dafür müssen sie selbst die Verantwortung übernehmen und sich selbst mit den Eltern auseinandersetzen, was sie da gut finden und was nicht", so der Ministerpräsident.
Viele Eltern wünschen Betreuung von Kleinkindern
Laut der Studie muss Baden-Württemberg aber davon ausgehen, dass perspektivisch noch mehr Eltern ihre Unter-Dreijährigen betreuen lassen wollen. Derzeit würden 30 Prozent der Unter-Dreijährigen betreut. Die Stiftung forderte die Kommunen als Kita-Träger auf, Erzieherinnen und Erzieher von verwaltungs- und hauswirtschaftlichen Arbeiten zu entlasten. Darüber hinaus müsse das Land sich weiter um Quereinsteiger bemühen.
Studie: Bis 2030 könnte BW das Personalproblem lösen
Und dennoch: Laut Prognose der Stiftung dürfte sich wegen der Gegenmaßnahmen der grün-schwarzen Landesregierung der Mangel an Personal bis 2025 etwas verringern: Dann fehlten noch 14.800 Erzieherinnen und Erzieher. Bis 2030 bestehe allerdings die Chance, die Lücke zu schließen.
Voraussetzung dafür sei aber, dass die erwarteten Azubis nach Abschluss auch wirklich in den Kitas beschäftigt und die fehlenden Räume zur Verfügung gestellt würden.
Abstriche bei Gruppengröße und Personalschlüssel?
Ein weiterer Hebel für eine Behebung der akuten Krise wären Abstriche bei den Vorgaben zu Gruppengröße und Personalschlüssel, wie sie zum Beispiel der Gemeindetag in Baden-Württemberg seit längerem fordert. Denn: was das zahlenmäßige Verhältnis von Erzieherin oder Erzieher zu betreuten Kindern angeht, steht das Land im Bundesvergleich gut da.
Laut Bertelsmann-Studie ist in den Krippengruppen der unter Dreijährigen eine Fachkraft rechnerisch für 2,9 ganztagsbetreute Kinder zuständig. Das ist sogar besser, als es die Stiftung (1:3) vorschlägt. Hier ist Baden-Württemberg bundesweit spitze. In den Gruppen der Kindergärten für 3- bis 6-Jährige ist eine Fachkraft rechnerisch für 6,4 Kinder verantwortlich. Auch damit übertrifft das Bundesland den empfohlenen Schlüssel von 1 zu 7,5 und ist im Vergleich der Bundesländer Spitzenreiter.
Knapp die Hälfte der Kitas mit "nicht-kindgerechtem" Personalschlüssel
Trotzdem kommt die Stiftung unter dem Strich zu einem ernüchternden Ergebnis: 45 Prozent aller Kita-Kinder würden in Gruppen mit "nicht-kindgerechten" Personalschlüsseln betreut. Das liege daran, dass insbesondere in den altersgemischten Gruppen das Verhältnis von Betreuenden zu Kindern oft schlechter sei - zum Beispiel in Kindergartengruppen, in die auch schon Zweijährige kommen dürfen. Aber auch hier steht Baden-Württemberg bundesweit knapp hinter Bremen noch am besten da. Bundesweit werden im Schnitt zwei Drittel aller Kita-Kinder mit "nicht-kindgerechtem" Personalschlüssel betreut.
In Baden-Württemberg gibt es in den Kommunen teilweise recht große Unterschiede bei der Personalausstattung der Kitas. Bei den Kindergartengruppen hat die Stadt Ulm eine Relation von 1 zu 5,6, während sie im Landkreis Freudenstadt bei 1 zu 7,7 steht, wie die Bertelsmann-Stiftung mitteilt. Bei den Krippen sind die Unterschiede geringer. Im Main-Tauber-Kreis kümmert sich eine Erzieherin rein rechnerisch um 2,5 Krippenkinder, in Mannheim sind es vier.
Rechtsanspruch gilt für Unter-Dreijährige seit zehn Jahren
Der Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr besteht seit mittlerweile zehn Jahren und für Kinder ab drei Jahren sogar schon seit 1996. Wenn dieser nicht eingelöst wird, können Eltern dagegen klagen.
Baden-Württemberg hat zwar in den vergangenen Jahren eine Aufholjagd gestartet: Zwischen 2011 und 2022 wurde die Zahl der Beschäftigten um 85 Prozent auf über 103.000 gesteigert. Doch gleichzeitig ist auch der Bedarf deutlich gestiegen.
Land und Kommunen setzen auf "Erprobungsparagraf"
Angesichts des Personalmangels greift das Land jetzt zu einer neuen Maßnahme: An diesem Mittwoch soll im Landtag in Stuttgart der sogenannte Erprobungsparagraf verabschiedet werden. Kitas dürfen demnach unter bestimmten Bedingungen die Personalvorgaben aufweichen. Damit dürfen sie in Zukunft weniger Erzieherinnen oder Erzieher pro Gruppe einsetzen, müssen diese aber durch andere Hilfskräfte ersetzen.
Kitas können selbst entscheiden, wen sie ansprechen und einsetzen. Zum Beispiel könnte eine Lehrkraft aus der Musikschule die musikalische Früherziehung übernehmen. Oder: Die Kita setzt einen Bewegungsnachmittag an, an dem die Übungsleiterin für Kinderturnen vom Sportverein die Kinder anleitet.
Ursprünglich hatte der zuständige Kultus-Staatssekretär Volker Schebesta (CDU) allgemeine Abstriche bei Gruppengröße und Personalschlüssel abgelehnt. Die zusätzliche Belastung für die Fachkräfte wirke abschreckend, erklärte er. Doch zuletzt ließ sich der CDU-Politiker auf den Kompromiss mit dem "Erprobungsparagrafen" ein, den der Städtetag ins Spiel gebracht hatte.
Einrichtungen sollen flexibler reagieren können Kitas in BW: Land will weniger Erzieher pro Gruppe ermöglichen
Kitas im Land sollen nach einem Beschluss des Kabinetts unter bestimmten Bedingungen von Personalvorgaben abweichen können. Damit könnten sie in Zukunft weniger Erzieher pro Gruppe einsetzen.
Grün-Schwarz entmachtet Landesjugendamt bei Modellversuch
Vor kurzem hatten die Regierungsfraktionen von Grünen und CDU den Gesetzentwurf aus dem Kultusministerium nochmal nachgebessert. Künftig soll das Landesjugendamt KVJS nur noch die Vollständigkeit der Unterlagen prüfen, aber nicht mehr der "bürokratische Flaschenhals" sein, wie es hieß. Außerdem wurde im Gesetz festgehalten, dass der Kita-Träger alle Betroffenen in die Entscheidung einbinden muss. Grüne und CDU sehen in dem Modellversuch auch einen Bürokratieabbau, weil die Kita-Träger mehr Handlungsfreiheit bekämen.