Überlastete Kinder- und Jugendkliniken

Fachgipfel zur Kindergesundheit in Baden-Württemberg: Ärzte warnen vor Kollaps

Stand

Die Kinderkliniken in Baden-Württemberg sind am Anschlag. Es fehlen Ärzte und Pflegende, Kinder könnten nicht richtig versorgt werden. Gesundheitsminister Lucha muss sich auf einem Krisentreffen den Vorwürfen stellen.

Zu wenig Personal, unnötige Bürokratie und vor allem leidende Kinder und überlastete Ärzte: Mit dramatischen Schilderungen aus dem Klinikalltag haben Mediziner bei einem Fachgipfel zur Lage in den Kinderkrankenhäusern und Arztpraxen die Belastungen des Personals und der Patienten beschrieben. Auf einem virtuellen Fachgipfel, den Gesundheitsminister Manfred Lucha (Grüne) kurzfristig einberufen hatte, warnten Ärzte und Verbände vor dem Kollaps und unterstrichen ihren Hilfsappell, den sie vorher bereits in einem offenen Brief an das Land gerichtet hatten.

"Die Lage ist katastrophal überall."

Sebastian Friedrich ist Assistenzarzt der Uniklinik in Freiburg. Er musste sich in vergangenen Nächten über Chats und Mails mit anderen Medizinern absprechen, um kranke Patienten aus der Kinderklinik behandeln zu lassen. "Wir haben nachts quer durch alle Kinderkliniken in Baden-Württemberg verzweifelte Telefonate geführt und versucht, auch noch das letzte mögliche Bett für eine krankes Kind aufzutreiben", erinnert sich der 33-Jährige an die vergangenen Wochen. Unter anderem suchte er für ein neun Monate altes Kind mit RS-Viren und Grippe ein Bett, vier Stunden später konnte es von Freiburg nach Karlsruhe gebracht werden. "Aber wir haben gemerkt, dass diese Vernetzung nachts nicht reicht und wir politischen Druck machen müssen", erzählt ein sichtlich frustrierter Mediziner. "Die Lage ist katastrophal überall."

Angesichts von Überlastung und Personalnot richteten Friedrich und weitere Fachärzte aus fast zwei Dutzend Kinderkliniken im Land mit deutlichen Worten einen Hilfsappell an die Landesregierung. Das System werde seit Jahren kaputtgespart, dringende kinderchirurgische Eingriffe würden verschoben. Nicht zuletzt dieser politische Druck hat Vertreter der Krankenhäuser und Pflege, der Gewerkschaften und Berufsverbände sowie das Gesundheitsministerium am Donnerstag zusammengebracht. In der zweistündigen Videoschalte berieten sie über Mittel und Wege aus der Krise, sicherten sich einen gemeinsamen Kraftakt zu, diktierten dem Land eine lange To-Do-Liste und verabredeten erste, wenngleich kleine konkrete Schritte.

Lange Wartezeiten und knappe Medikamente

Denn die Zeit dränge. Die Lage an den Kinderkliniken in Baden-Württemberg sei seit Wochen angespannt, unter anderem aufgrund einer deutlichen Zunahme von Atemwegserkrankungen, aber auch durch Personalmangel und zusätzliche Krankheitsfälle unter den Mitarbeitenden. An dem Krisengipfel nahmen neben Gesundheitsminister Lucha Vertreterinnen und Vertreter von Krankenhäusern, der Pflege, Berufsverbänden, Gewerkschaften, Landesärztekammern und der Baden-Württembergischen Krankenhausgesellschaft teil.

Es gebe stundenlange Wartezeiten, Kinder müssten teils in Notaufnahmen übernachten, sagte Friedrich Reichert, Kinder-Intensivmediziner in der größten deutschen Kinderklinik, dem Klinikum Stuttgart-Olgahospital. Apothekerinnen und Apotheker warnten vor einer weitgehenden Knappheit von Fiebersäften für Kinder, Ärztinnen und Ärzte berichten von Frust auf den Stationen und eine fehlende Attraktivität für den Beruf.

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Der Verband leitender Kinder- und Jugendärzte Deutschlands warf der Landesregierung vor, nicht rechtzeitig reagiert zu haben. "Die Situation ist vorprogrammiert gewesen", sagte sein Landesvorsitzender Christian von Schnakenburg bei der Videoschalte des Gesundheitsministeriums. Die Regierung sei bereits vor einem Jahr deutlich gewarnt worden. "Ein 'Weiter so' geht nicht", sagte Roland Fressle vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte in Baden-Württemberg.

Ärztliche Versorgung über die Feiertage sichern

"Das ist eine Notlage", warnte auch der Hauptgeschäftsführer der Baden-Württembergischen Krankenhausgesellschaft (BWKG), Matthias Einwag. "Das ist kein Dauerzustand." Es müsse zunächst die Versorgung an den Weihnachtstagen und bis nach Neujahr sichergestellt werden. Danach müsse geklärt werden, wie die Lage der Kliniken und ihres Personals auf längere Sicht verbessert werden könne.

"Es ist wichtig, dass wir diese schwierige Phase gemeinsam meistern"

"Wir erwarten dabei ein klares Bekenntnis, dass alle Leistungserbringer in den kommenden Wochen alles tun, um die Versorgung der Kinder zu gewährleisten", erklärte Einwag. Damit die Notaufnahmen der Kliniken nicht überliefen, müssten an den Feiertagen und "zwischen den Jahren" in guter Kooperation auch die Vertragsärzte für die kleinen Patientinnen und Patienten zu erreichen sein.

Lucha verteidigt bisherige Politik - und ruft zu Reformen auf

Im Gespräch beriet Gesundheitsminister Manfred Lucha bei dem zweistündigen Gespräch über Mittel und Wege aus der Krise. Der Grünen-Politiker rief zu einem gemeinsamen Kraftakt auf, er verteidigte aber auch die bisherigen Schritte des Landes. Lucha bekräftigte, die Pflegepersonaluntergrenzen an den Kinderkliniken in Baden-Württemberg müssten auch weiterhin nicht eingehalten werden, auch werde man als Ergebnis des Gipfels konkrete Forderungen an den Bund formulieren. Schulen und Kitas würden zudem aufgefordert, nur in bestimmten Fällen ein ärztliches Attest zu verlangen. So könnten Kinderarztpraxen entlastet werden.

"Gegenseitige Schuldzuweisungen helfen uns jetzt genau so wenig weiter wie Daueralarmismus", sagte Lucha weiter. Notwendig sei aber "eine grundlegende Reform des Gesundheitswesens".

SPD und FDP kritisieren Gesundheitsminister Lucha für späte Reaktion

Die SPD warf Lucha am Rande des Fachgipfels vor, Kliniken, Kinderärzte und Familien seit Wochen warten zu lassen. Der Gesundheitsexperte der SPD, Florian Wahl, erklärte, seine Partei fordere eine Rückholprämie für Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegende, die nicht im Beruf arbeiten oder im Ruhestand sind. In den ambulanten kindermedizinischen Notfallpraxen an Krankenhäusern müsse das Personal erhöht werden, Kinderarztpraxen müssten offenbleiben, außerdem sei es notwendig, die Telemedizin aufzustocken. "Hier geht es vor allem darum, die Eltern über Video zu beraten, wie sie kranke Kinder auch ohne direkten Arztbesuch zu Hause betreuen können", sagte Wahl.

Die FDP kritisiert im Vorfeld, dass es offenbar immer erst massiven Druck von Betroffenen brauche, bis Gesundheitsminister Manfred Lucha handele. Und: Man brauche nicht nur kurzfristige Lösungen, sondern nachhaltige. Die CDU begrüßte den Gipfel, den das grün-geführte Gesundheitsministerium als Reaktion einberufen hat. Der Fraktionsvorsitzende Manuel Hagel (CDU) sagte, man müsse die Versorgung der Schwächsten in unserem Land auf stabile Beine stellen.

Kinderkliniken hatten zuvor Alarm geschlagen

Die Lage in den baden-württembergischen Kinderkliniken ist seit Wochen angespannt. Mit dramatischen Worten hatten rund zwei Drittel der Kinderkliniken in Baden-Württemberg einen Hilfsappell an die Landesregierung gerichtet.

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